Victoria Wanner - Schnee von gestern

Victoria Wanner 
Schnee von gestern

Gestern lag vor meiner Haustür Schnee,
gestern blühten Eisblumen am Küchenfenster
und ein Bild aus Kufenspuren auf dem gefrorenen See.
Geh nicht auf das Eis, sage ich zu meiner Schwester.
Das ist nicht sicher.

Gestern stand ich am Ufer im Schnee
und meine Schwester tanzte
neue Kufenspuren auf den gefrorenen See.
Auf ihrem Haar blüht eine Krone aus Reif,
doch ihre Hände sind rot und kalt und steif.

(Ich war ruhig, ich war zufrieden,
ich war ein dunkler Meeresgrund,
unbeirrt und unentschieden,
egal wie schwer der Sturm auch tobt.)

Stell dir vor,
ich habe nur noch ein Jahr zu leben.
Würdest du nicht wollen, dass ich es glücklich lebe?

Heute glitzert vor meiner Haustür eine Pfütze
und Tau an meinem Küchenfenster,
und auf dem Kopf meiner Schwester
blüht eine Krone aus Löwenzahn.
Keine Eisschicht bedeckt unseren See.
Wir sind älter und stiller und vermissen den Schnee
und sie reicht mir ein Zepter aus Kamille und Farn.
Heute stehen wir beide am Ufer.
Heute sind ihre Hände warm.

Das Mädchen von vorhin, von heute morgen?
Schnee von gestern.
Ich bin ein völlig neuer Mensch,
ich hab die Möbel umgeschoben
und meine Haare bunt gefärbt.
Ich bin der Sturm, der Schaum, die Wogen,
ich hab gepackt, bin umgezogen,
ich hab mich endlich neu erfunden,
und all die Jahre, Tage, Stunden
die ich am Grund lag, lass ich unter mir.

Jetzt stell dir vor,
ich habe noch fünfzig Jahre zu leben.
Sechzig, siebzig, gar!
Würdest du nicht wollen, dass ich sie glücklich lebe?

(Denn ich hab es satt zu warten
auf die Ruhe nach dem Sturm,
auf all die endlich guten Taten
und darauf, mich zu akzeptieren.)

Morgen gehe ich zum See zurück.
Schnee lag schon lange keiner mehr.

Siebzig oder nur ein letztes Jahr,
ich will die Krone auf meinem Haar.
Ich will den Frost und den Löwenzahn,
ich will den Moos, das Eis, den Farn.
Ich will ein letztes Mal einen letzten Tanz
auf meinem zugefrorenen See.
Gleich morgen setze ich mich an das Ufer
und flechte mit kalten Händen einen Kranz.

Vielleicht setzt sich meine Schwester zu mir.
Morgen sollte ich sie anrufen.
Die Lichtspiele auf dem Wasser schimmern fast
wie ein Bild von Schlittschuhkufen.