Was für eine Märchenstunde - Lesung von jugendlichen Autoren beim Elternverband Ruhr am vergangenen Freitag

Was für eine Märchenstunde!
Der Elternverband Ruhr, ein Zusammenschluss von hauptsächlich türkischen Eltern, ist schon etwas Besonderes. Er hat es sich nämlich zum Ziel gesetzt, Kinder und Jugendliche zu fördern, deren Familien ins Ruhrgebiet eingewandert sind. An seiner Spitze steht Dr. Ali Sak, ein Mediziner aus Essen, der seine eigene Migrationsgeschichte zum Anlass nimmt, sich zu engagieren. Vor allem um die Förderung der Sprachkompetenz ihrer Kinder geht es den Eltern, darum, dass sie Deutsch lernen, ohne ihre eigenen sprachlichen Wurzeln zu vergessen. Das eine bedingt das andere – Bilingualität -, das ist ihre Erfahrung.
Am Freitag, den 4.2.2011, hatte nun der Elternverband Ruhr Jugendliche eingeladen, die sich an dem Buchprojekt Märchenhaftes zwischen Emscher und Ruhr beteiligt hatten und deren Texte in der gleichnamigen Anthologie abgedruckt worden waren. In einer Art Märchenstunde sollten sie vorstellen, was sie geschrieben hatten, und sich den Fragen der Zuhörer stellen. Schon im vergangenen Jahr war die Lesung ein voller Erfolg gewesen. Und nun? Wie hatten sich die Jugendlichen in diesem Jahr entwickelt? Würden sie ihren Erfolg wiederholen können? Die Jugendlichen jedenfalls waren Feuer und Flamme.  Gekommen waren Cansu Agarmis, Farwa Ahmadyar, Elmast und Muhammed Kaya sowie Husnia Haschemi. Die meisten waren schon im vergangenen Jahr dabei und hatten darauf gepocht, jetzt wieder mitkommen zu dürfen.  
Schon zu Beginn der Veranstaltung gab es etwas Besonderes. Nehrin Kurtov, ein junger Musiker, der demnächst seine Aufnahmeprüfung an der Folkwang-Hochschule machen wird, stellte sich vor. Er spielte auf seiner Klarinette traditionelle Weisen und stimmte so die Zuhörenden ein auf das, was sie bei der Lesung erwartete: eine Rückbesinnung auf die eigene Tradition im Spiegel der gelebten Wirklichkeit. Ein toller Einstieg! Ein toller Musiker, dem man nur alles Gute wünschen kann!
Dann ging es los. Als erstes las Cansu Agarmis ihr Gedicht Unser Märchen, der das Einladungsplakat zierte, türkisch und deutsch, anschließend ihren Text Märchen für die Gegenwart. Danach kam Farwa Ahmadyar mit ihrem Beitrag Ein Märchen, das kein Märchen ist, der schon vom Titel her anzeigt, was sie mitteilen möchte. Nach ihr las Muhammed Kaya seine Geschichte Maallis, die zwischen dem Orient und dem Okzident spielt. Den Abschluss übernahm Husnia Haschemi mit ihrem Text Aiyse und ihre sieben Brüder.
Wie im vergangenen Jahr nahm sich der Elternverband für jeden einzelnen Text Zeit. Es wurde nachgefragt, kommentiert und offen besprochen, was an Erfahrungen sich in den Texten spiegelte. Bei Cansu Agarmis ging es vor allem darum, wie sehr sich türkische Texte und ihre Übersetzung unterscheiden. Was lässt sich überhaupt von einer Sprache in die andere übertragen? Was passiert mit dem gesagten, was mit dem Gemeinten? Entsteht da nicht ein völlig anderer Text? Fragen, mit denen jeder zu tun hat, der etwas übersetzen will, die aber hier das berührten, was Integration ausmacht und wo es trotz aller Bereitwilligkeit hakt!
Farwa Ahmadyar beeindruckte schon beim Vortrag durch ihre glasklare Sprache, die ausgesprochen bildhaft, darin aber äußert präzise war. Wie kann man jemanden verstehen, wenn man nicht seinen Erfahrungshorizont hat? Ist es nicht notwendig, erst einmal seine Schuhe anzuziehen und seinen Weg zu gehen?  Unmissverständlich prangert Farwa Ahmadyar diejenigen an, die sich nicht dieser Mühe unterziehen und trotzdem andere beurteilen, ja, verurteilen. Klar und deutlich forderte sie dazu auf, respektvoll mit Neulingen umzugehen und sie zu achten.
Ganz anders präsentierte sich Muhammed Kaya mit  Maallis, einer Geschichte um einen Jungen, der sozusagen von der eigenen in eine andere Kultur wechselt. Vor allem sein Bild, dass dieser Junge von einem hölzernen in einen metallenen Käfig kommt, erregte Anstoß. Ist das wirklich alles, was passiert, wenn man in einer neuen Kultur ankommt? Stimmt das so überhaupt? Und: Wie soll man reagieren, wenn man in dem aufnehmenden Land abgelehnt wird? Viele Zuhörer brachten hier ihre Erfahrungen ein und diskutierten heftig über Anspruch und Wirklichkeit von Integration. Hatte sich in den vielen Jahrzehnten, in denen Deutschland, ja, das Ruhrgebiet Einwanderungsland ist, wirklich nichts verändert, wie es in der Geschichte erschien? Immerhin zieht sich der Junge in dem Text nicht zurück. Er entscheidet sich zu bleiben und stellt sich den neuen Herausforderungen!
Beifall erntete auch Husnia Haschemi mit ihrer Geschichte über Ayse und ihre Brüder. Es herrschte Einigkeit darüber, dass die Ehre einer Familie verlorengeht, wenn die Familienmitglieder einander nicht respektieren und sich nicht vertrauen. Alle leiden darunter, ohne Ausnahme. Ayse stellt humanes Handeln über die starren  Prinzipien ihrer Familie und bezahlt dafür mit dem Tode. Gerade sie ist aber diejenige, die mit ihrem Verhalten die Ehre ihrer Familie unter veränderten Lebensbedingungen wahrt.
Wie ein roter Faden zog sich die Frage durch die Diskussionen, wo wir uns in Essen in dem schon so lang andauernden Integrationsprozess befinden. Auf der einen Seite stand der Wunsch nach mehr Möglichkeiten, sich einbringen zu können, auf der anderen die Forderung, als einfaches Glied der Gesellschaft mit der eigenen Geschichte akzeptiert und toleriert zu werden. Integration beginnt vielleicht damit, dass diejenigen, die nach Deutschland kommen, Deutsch lernen. Entscheidend ist etwas anderes: Es ist der Wunsch aller, eine gemeinsame Zukunft zu bauen, egal, ob man zugewandert ist oder nicht oder wie alt man ist. Und da geht der Elternverband Ruhr, wie dieser Abend belegt, mit gutem Beispiel voran. Eine Märchenstunde der eigenen Art also, die man so schnell nicht vergisst!      
(Hg.) Andreas Klink, Artur Nickel:  Märchenhaftes zwischen Emscher und Ruhr.                                                 
    Kinder und Jugendliche erzählen …, Vechta 2010
    ISBN 978-3-86685-261-7
    12,00 Euro