Wendelin Mangold - BÜDINGEN ALS INSPIRATIONSORT
BÜDINGEN ALS INSPIRATIONSORT
„Volk auf dem Weg“, 10/2023, 40-41,
Väterlicherseits bin ich Wolgadeutscher (Vater in Marienthal an der Wolga geboren) und mütterlicherseits Schwarzmeerdeutscher (Mutter in Bischofsfeld, Gebiet Odessa geboren).
Am Lebensende
stellt sich die Daseinsfrage,
hat es sich denn gelohnt
zu leben oder nicht.
Die Sonne geht auf
von Tag zu Tage,
vertreibt die Nacht
und schenkt uns Licht.
Mein erster Besuch des Schlosses Büdingen in Oberhessen hat mich sehr beeindruckt und zum Theaterstück inspiriert, das ich bald darauf gegen das Vergessen der Auswanderungsgeschichte der Deutschen nach Russland geschrieben und 2012 im Geest-Verlag veröffentlicht habe und dafür 2013 mit dem Preis `Flucht, Vertreibung Eingliederung‘ der Hessischen Landesregierung ausgezeichnet wurde.
Hier ein Auszug aus der Laudatio: „Dr. Wendelin Mangold hat sich insbesondere mit seinem Theaterstück „Vom Schicksal gezeichnet und geadelt“ um die Vermittlung der Geschichte der Vertriebenen verdient gemacht. Das Theaterstück stellt die 5-jährige Geschichte der Deutschen aus dem Wolga-Gebiet nach von der Anwerbung in Büdingen bis zur Verschleppung nach Sibirien und dem schwierigen Anfang in der neuen Heimat in Deutschland. Das Theaterstück eignet sich besonders als Arbeitsmaterial an Schulen, sei es für Theatergemeinschaften oder für den Deutsch- und Geschichtsunterricht.“
Am 1. September besuchte ich erneut das Schloss Büdingen im Rahmen der Fachtagung „260 Jahre Einladungsmanifest“, organisiert von der Interessengemeinschaft der Deutschen aus Russland Hessen (IDRH) in Kooperation mit dem BKDR und der Landsmannschaft der Wolgadeutschen.
Meinen Vortrag habe ich dem Thema „Generationswechsel der Russlanddeutschen“ gewidmet. Hier ein paar Auszüge daraus: „Die Auswanderung ist ein tiefer Einschnitt im Leben der Russlanddeutschen, der tiefe Spuren bei der älteren Generation hinterlassen hat, und selbstverständlich nicht spurlos an der jüngeren Generation vorbeigegangen ist. … Wie jeder Wechsel, so auch der Generationswechsel, legt etwas Altes ab und bringt etwas Neues, des Öfteren nicht ohne Missverständnisse zwischen den älteren und jüngeren Generationen. … Wie wollen wir Älteren die Jüngeren sehen, was haben wir ihnen mit auf den Weg ins Leben hierzulande gegeben? … Ich habe meine Sorge, nicht dass sie nicht gut hier ankommen und angekommen sind und nicht, dass sie erfolglos werden und geworden sind, sondern, dass sie sich uns immer mehr entfernen. … Wer, wenn nicht die Jungen, sollen unsere Stellen einnehmen! Oder wollen sie nichts mehr von der älteren Generation wissen und schämen sich gar ihrer und wenden sich sogar von ihr ab, weil sie nicht wie die Einheimischen auftrumpfen können und schmale Renten beziehen im Unterschied zu den Einheimischen desselben Berufs, demzufolge die Kinder der Einheimischen auch bessere Bildungschancen haben. Und da es so ist, sollten wir uns Sorgen machen und irgendwie dagegenwirken, um die Chancengleichheit herzustellen durch die gerechte Teilhabe in allen Bereichen!“
Die 260jährige russlanddeutsche Geschichte fühlt sich hier in Büdingen gegenwärtig und lebendig an (bedenkt man, dass sie noch 83 Jahre jünger war, als ich geboren wurde), als hätte sie erst gestern oder vorgestern angefangen, deren Auswanderer die Wolga-Gegend zu beiden Ufern des Wolga-Stroms dicht besiedelt, später die Ufer des Schwarzen Meeres und den Kaukasus mit deutschen Siedlungen (historisch-wissenschaftlich Mutter- und Tochterkolonien) überzogen haben, zusammen über 3 Tausend Siedlungen. abgesehen von den in Kauf genommenen Strapazen und Menschenopfer.
Man kann unsere russlanddeutsche Geschichte in Büdingen wahrhaft einatmen, man kann fast spüren, wie unsere Ahnen das Stadttor hinauszogen, wehmütig und hoffnungsvoll zurück- und vorwärtsblickten, vom Sog Neuanfang getrieben und von all den Reisestrapazen und unzähligen Opfern nichts ahnend:
„Was ist das vor ein Schmerz
Daß ich muß Deutschland meiden
Und nun als Kolonist
Viel Plag und Kummer leiden
Betrübniß viel Verdruß
Zu Wasser und zu Land
Drum bin ich ärgerlich
In diesem neuen Stand.“
(aus dem Poem „Reise-Beschreibung der Kolonisten wie auch Lebensart der Rußen“ von Bernhard Ludwig von Platen)
Der Auswanderungsabschied spielt sich in meinem Theaterstück im Prolog und in der ersten Szene in Büdingen ab. Das muss damals turbulent und hektisch zugegangen sein, sogar mit überstürzten Trauungen in der Marienkirche (da nur Verheiratete Anspruch auf Land haben), was die archivierten Kirchenbücher eindeutig bezeugen und Auskunft geben.
Die Auswanderungsgeschichte der Russlanddeutschen ist in Büdingen zum Greifen nahe. Die Wehmut verschnürt mir immer wieder die Brust, wenn unser Jakob Fischer das Abschiedslied „Nun ade, du mein lieb Heimatland“ singt.
Die von Russland im 17. Jahrhundert initiierte, großgeplante und in Gang gesetzte Einwanderung der Deutschen an die Wolga, ans Schwarze Meer und den Kaukasus, kein Vergleich zur gegenwärtigen Situation der Asylanten und Flüchtlingen, oftmals von Schleusern organisiert, die bereits Europa überschwemmen. So können wir auch die heutigen Asylanten und Flüchtlinge, die ihre Heimat verlassen, aus welchen Gründen auch immer, besser verstehen. Und ob uns nicht der Abschiedsschmerz bekannt ist, als wir nach Deutschland, die historische Heimat, zurückgewandert sind und bittere Abschiedstränen vergossen haben und geflossen sind sie auch bei den zurückgebliebenen Verwandten, Freunden und Bekannten auf Bahnhöfen und Flughäfen.
Wendelin Mangold