Wendelin Mangold - KRAFT UND SAFT DER MUTTERSPRACHE
KRAFT UND SAFT DER MUTTERSPRACHE
Ich schreibe das aus großer Liebe und unendlicher Dankbarkeit an meine Muttersprache: Mir sin Schwowa. Ich habe nicht vor, hier einen wissenschaftlichen Artikel zu liefern. Sogar in der Sowjetunion blühten die Dialekt- und Mundartforschungen als ein einmaliges Beispiel im Sowjetimperium (Stalin tötete nicht nur, sondern spielte nebenbei den großen Linguisten *), jedoch mit der Gefahr hin, Repressalien ausgesetzt zu sein. Dialekt- und Mundartforschung betrieb auch eine Reihe Russlanddeutscher, darunter als Beispiel unser Schriftsteller Viktor Heinz. Wen die Mundartforschung interessiert, der sollte nach der Vielzahl von wissenschaftlichen Büchern greifen, die in den Bibliotheken schlummern und in den Archiven verstauben.
*N. N. Marr, ein bedeutender georgischer Sprachwissenschaftler, hat eine Neue Lehre von der Sprache aufgrund der Japhetitentheorie entwickelt, was zu einer heftigen Diskussion in der sowjetischen Presse führte. Am 20. Juni 1950 veröffentlichte Stalin seinen Standpunkt dazu. Die direkte Beteiligung eines politischen Führers in Fragen der Sprachtheorie war beispiellos. Von nun an tanzten alle nach seiner Pfeife.
Die Muttersprache ist ein wahrer Schatz und, es soll hier betont sein, kein Abfallprodukt. Bekanntlich sind deutsche Mundarten primär und indigen im Vergleich zu Hochdeutsch, übertrieben gesagt, fast wie Indianer und Aborigines.
Der Mutterlaut wird aufgenommen mit der Muttermilch im Elternhaus zusammen mit anderen Identitätsmerkmalen wie Sitten und Bräuche, Haushalt und Gerichte, aber auch Glaube und Widerstandskraft als Schutz und Trutz, buchstäblich nach Martin Luther „Ein feste Burg ist unser Gott.“, angesichts der brutalen Sowjetideologie und stalinistischer Diktatur, der pauschalen Deportation und der totalen Entrechtung. Sie hat die Revolution, den Bürgerkrieg, zwei Weltkriege, das Sprachverbot überlebt. Hier mein Gedicht, in jungen Jahren zum Thema „Sprachverbot“ geschrieben und in meinem zweiten Gedichtbändchen „Mir träumte im Süden vom Schnee“ (Verlag „Kasachstan“, Alma-Ata, 1987, S. 39) veröffentlicht, was wir Russlanddeutsche seinerzeit in der untergegangenen Sowjetunion zur Genüge erlebt haben.
Wie soll man da nicht an die jüngst entführten ukrainischen Kinder denken, die ihre Muttersprachen vergessen sollen. Kann es denn ein schlimmeres Verbrechen geben!
MEIN STUMMES LIED
Mein stummes Lied entweicht der Lunge
und rieselt hauchwarm durch den Schlund.
Es hüpft mir auf die feuchte Zunge
und macht sich breit in meinem Mund.
In meine Augen steigen Tränen,
und meine Seele feiert Fest.
Doch stößt es hart sich an den Zähnen –
so fällt ein Junges aus dem Nest.
Es schlägt ermattet mit den Schwingen
und ringt nach Luft aus letzter Kraft.
Es will so gerne singen, klingen…
mit unbegrenzter Leidenschaft.
Ich summ‘ es mit geschlossnen Lippen,
solang es lebt in meiner Brust.
Es stößt mir bebend an die Rippen
mit letzter schwacher Lebenslust.
Obwohl: So mancher hat es unter dem Zwang der sowjetischen Lebensumstände versucht, seine Muttersprache abzulegen und sich muttersprachlich totzustellen, um sprachlich neugeboren zu werden und sich russisch zu verstellen. Sie ist jedoch wie die Chinesische Mauer standhaft geblieben. Sie stirbt erst, sterben ihre Träger. Und wir haben sie nach über zwei Jahrhunderten als Konterbande zurück nach Deutschland gebracht. Das, was wir in uns tragen, kann uns niemand nehmen!
Als junger Pädagoge und angehender Dichter habe ich seinerzeit einen Artikel mit dem Titel „Unser Schatz Muttersprache“ in der Wochenschrift „Neues Leben“, Moskau, Nr. 37, 9. September 1981 veröffentlicht.
Nur ein Laut, und ich weiß, wer du und wessen Kind du bist. Kaum den Mund geöffnet, verraten wir unsere Herkunft. Sie ist wie unser einmaliger Fingerabdruck. Sagt mir, bitte, nicht, ihr hättet nicht schon mal die Erfahrung gemacht, dass man euch, kaum mit jemand ins Gespräch gekommen, gefragt hat, als wäre es die Sprachpolizei:
„Kommen Sie aus dem Osten?“
„Wie kommen Sie darauf? Ich lebe schon dreieinhalb Jahrzehnte in Deutschland.“
„An Ihrer Aussprache, die klingt so anders.“
„Stimmt. Mein Deutsch ist eine gelernte Sprache. Von Haus aus spreche ich russlandschwäbisch.“
Die Muttersprache gehört neben den Trachten, Tänzen, Liedern u.a.m. zu den kulturellen Werten einer Volksgruppe und dementsprechend gilt es, sie zu pflegen und zu bewahren. Sie ist praktisch eine gesprochene Sprache, wenn es auch in der deutschen Dichtung mehr als genug Mundartliteratur gibt. Allein sie richtig zu artikulieren, ist ein schwieriges Unterfangen und fordert eine Menge praktischer Übungen. So gibt es in meiner Mundart einen Laut, um nur ein Beispiel zu nennen, der wissenschaftlich als „getrübtes a“ bezeichnet wird. Und wie soll man sich das vorstellen, fragt ihr jetzt bestimmt, als wolkenbedeckter Himmel, oder als nebeliger Tag? Den Laut kenne ich seit meiner Kindheit und kann ihn bis heute immer noch mühelos artikulieren: Hond - Hand, Wond – Wand, Elefont – Elefant, kmocht – gemacht, grova – gegraben usw. usf. Gebt euch, bitte, keine Mühe, es ist weder ein a noch ein o, und nämlich ein einmaliges Dazwischen. Das soll aber nicht heißen, dass meine Mundart keinen a-Laut kennt, ich bitte Sie, hier als Beispiel: t Amer – der Eimer, amol – einmal, a klanes Kind – ein kleines Kind. Was wiederum nicht bedeutet, meine Mundart kenne nicht den ei-Zwielaut/Diphthong nicht, bitte: schreiwa – schreiben, Weiwr – Weiber, aber auch heit – heute, Leit - Leute. Wie man sieht, sind meiner Mundart all diese „hochdeutschen“ Laute nicht fremd, nur sind sie anders verteilt. Besonders ramponiert sehen die bestimmten Artikel, Vehikel der deutschen Substantive, in meiner Mundart im Vergleich zu den hochdeutschvollbusigen Geschlechtswörtern aus: „s“ für „das“ – s Kind, „t“ für „die“ – t Sau und, nun wird es besonders rutschig, „tr, trr“ für „der“ – tr Tisch, trr Brudr. Bekanntlich werden die Substantive/Nomen geschlechtlich als männlich, weiblich oder sächlich (was immer das bedeutet) geboren. In einzelnen Fällen haben wir es aber mit echter Geschlechtsumwandlung zu tun, so beispielsweise das Substantiv „Butter“ – männlich in meiner Mundart, aber weiblich Hochdeutsch. Wenn das keine Gendergeschichte ist!
Ihr könnt mir sagen, was ihr wollt, meine Muttersprache wirkt auf mich wahrhaft wie Droge, die süchtig macht.
Als ich 1962 mein Studium aufnahm an der deutschen philologischen Abteilung (wie es offiziell hieß) der Pädagogischen Hochschule zu Nowosibirsk, die Lehrer der deutschen Muttersprache und deutscher Literatur ausbildete, befand ich mich unter den russlanddeutschen Mädchen und Jungen aus ganz Sibirien, dem Verbannungsort der Russlanddeutschen, das Dutzende Mal so groß wie Deutschland ist, wobei jeder von Haus aus seine Mundart sprach. Hier hörte ich auch zum ersten Mal den Spruch unseres russlanddeutschen Lektors und bekannten Schriftstellers Victor Klein: „Jeder spricht so, wie ihm der Schnabel gewachsen ist“. Damit traf er den Nagel auf den Kopf. Muttersprachlich gesehen, waren wir bunte Vögel mit eigenem Gesang. Gut und schön, aber ab jetzt ist Hochdeutsch für jeden von uns künftigen Lehrer des Fachs Deutsch und deutsche Literatur Pflicht geworden. Und das ging leider oftmals (noch so ein beliebter ruppiger Spruch von V. Klein) „wie das Pech von der Hose“. Aber die mehrjährige Anstrengung der Lektoren und Studenten trug letztendlich süße Früchte.
Nun wurde an jedem Laut unendlich viel und lang geschliffen (so an den Umlauten: i zu ü Miele – Mühle; e zu ö Leffel – Löffel; e zu ä wehlen – wählen) und an jedem Satz, bis er grammatisch bis auf das letzte Komma zurechtgebogen und orchestriert ist (so die Wortfolge und die Interpunktion: Er sagt nicht er ist wer. – Er sagt nicht, wer er ist.).
Ab jetzt hieß es, es wird hochdeutsch gelernt und gesprochen! Leicht gesagt, aber schwergetan. Und dann ging es ganze acht Semester los:
Leise zieht durch mein Gemüt
Liebliches Geläute. …
(Heinrich Heine „Frühlingslied“)
Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du…
(Johann Wolfgang Goethe „Wanderers Nachtlied“)
Zu Dionys dem Tyrannen, schlich
Damon den Dolch im Gewande,
Ihn schlugen die Häscher in Bande. …
(Friedrich Schuller „Die Bürgschaft“)
Wer reitet so spät durch Nach und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind, …
(J. W. Goethe „Erlkönig“)
In einem schöngeistigen Werk, hochdeutsch verfasst, wirkt die Mundart, wenn auch nur spärlich eingestreut, wie Gewürz, wie Salz und Pfeffer, was den Leser in Bann zieht und ihn neugierig macht.
Daher sollten unsere russlanddeutchen Autoren sich nicht davor scheuen, zur Charakteristik der literarischen Gestalten russlanddeutscher Herkunft die Mundart zu gebrauchen, wenn auch nur durch eine Handvoll mundartlichen Einsprengseln.
Wendelin Mangold
(neu aus Volk auf dem Weg)