Wendelin Mangold: MAN KANN DEM MENSCHEN NICHT INS HERZ SEHEN ODER RUSSISCH ЧУЖАЯ ДУША – ПОТЕМКИ*
Unlängst wurde ich von einer kirchlichen (in diesem Falle katholischen) Einrichtung gebeten (wissend, dass ich aus Russland komme und Russisch beherrsche), einen Text ins Russische zu übertragen. Es ging um eine religiöse Broschüre. Obwohl mein religiöses Russisch grottenschlecht ist und die Übersetzung für mich eine Herausforderung ohnegleichen darstellte, konnte ich nicht nein sagen, was ich hernach tausendmal bereut habe, dass ich mich überreden ließ und kleinmutig christlich-katholisch nachgab und zugesagt habe.
Mein Russisch war schon immer etwas katzenkratzbürstig und das religiöse Russisch kam mir schon immer wie die Sprache irgendwelcher Aliens von irgendwelchen Planeten vor. Und das nicht ohne Grund. Die Religion und der Glaube wurde von der Sowjetmacht aufs Strengste verboten und als ihr ideologischer Feind aufs Grausamste „Verfolgt-verhaftet-vernichtet“ (so heißt das Buch von Wolfgang Grycz, an dessen Entstehen ich maßgeblich beteiligt war). Daher beteten meine Eltern und Großeltern in der sibirischen Verbannung im stillen Kämmerlein, aber selbstverständlich Deutsch, dabei war die Unterweisung der Kinder im Glauben sträflich und ihnen von Staats wegen strengstens untersagt. Sodass sich in mir kein religiöses Russisch anpflanzen und gedeihen konnte.
Also, habe ich mich wochenlang mit der Übersetzung des religiösen Textes abgemüht und herumgeschlagen und sie letztlich mit Ach und Krach, mit Mühe und Not fertig gestellt. Nun habe ich nach einem gewissen zeitlichen Abstand ein komisches Gefühl. Und nämlich. Fühlt sich der deutsche Originaltext sprachlich geschmeidig an, als streichele man das Fell eines Edeltieres, wobei die russische Version ziemlich rauh wirkt, als streichele man das Fell in falscher Richtung (dazu gibt es im Russischen einen treffenden Ausdruck гладить против шерсти – also praktisch wörtlich so viel wie 'gegen den Strich').
Alles das brachte mich zum Nachdenken und auf weitläufige Gedanken.
So war ich in der Schule ein fleißiger Schüler, aber nie unter den Besten der Klasse, obwohl ich in allen Fächern, außer Russisch, ausgezeichnete Noten bekam. Russisch war meine Achillesferse, wie viel ich mich auch anstrengte – die grammatikalischen Regeln sah ich gar mit geschlossenen Augen – half das wenig. Die Russischlehrerinnen brachten es nicht übers Herz, mich mit Ausgezeichnet zu benoten, das verstehe ich jetzt, aber nicht damals. Damals fasste ich das als Diskriminierung auf – wurden wir Russlanddeutschen weit weg vom Heimatort verschickt und verbannt in die unwirtlichsten Gegenden Russlands wie Hoher Norden, Ural, Sibirien, Ferner Osten für immer und nimmer und ewige Zeiten! Ja, das wurden wir. Aber die Russischlehrerinnen hatten recht: Mein Russisch war und wurde nicht zu meiner Muttersprache. Denn Deutsch, wenn auch als verkümmerter Dialekt, „mir sin Schwowe“, war meine richtige Muttersprache. Gut oder schlecht, daran war und ist nicht zu rütteln! Jeder Mensch hat nur eine Muttersprache, man lese bitte den Vortrag von Dr. Sak „Die Muttersprache“.
Jedoch noch viel wichtiger ist die Mentalität. Eine Sprache kann gelernt werden, so habe ich bis zu meinem fünften Lebensjahr kein Wort Russisch gesprochen und die russische Sprache als Kind schnell in der Verbannung dazugelernt und bin trotzdem Deutscher (genauer Russlanddeutscher) geblieben und als solcher vor zwei Jahrzehnten bei sich gebotener Gelegenheit nach Deutschland ausgewandert. Obwohl es in Deutschland Millionen von Zuwanderer aus der ganzen Welt gibt, manche hier aufgewachsen oder gar geboren und Deutsch besser sprechend als die Deutschen selbst, sind sie und werden sie nie richtige Deutsche vom Genotyp her sein. Mental gemeint beleibt ein Italiener immer ein Italiener, ein Russe ein Russe, ein Russlanddeutscher wird aber über kurz oder lang Deutscher, des Öfteren deutscher als selbst die Deutschen hier. Somit bin ich meinem Verleger Alfred Büngen, einem waschechten Deutschen, hier geboren und aufgewachsen, bedeutend näher als einem Russen (gewollt oder ungewollt), wenn ich auch in Russland geboren, aufgewachsen und fünf Jahrzehnte meines Lebens dort verbracht habe. Versteh das einer! Aber dem ist so.
Bitte nicht verwechseln mit der Frage der Interkultur als Folge der massiven Zuwanderung, da hat Dr. Mark Terkeesidis auf weiten Strecken nicht unrecht (selbst mit Migrationshintergrund, geht es ihn zutiefst persönlich an – ein Eingeborener käme wohl nicht auf solche Gedanken).
Zurück zur Frage der Mentalität. Wie habe ich mich geärgert, als ein dämlicher Journalist der Lokalzeitung von Kronberg im Taunus über meine Lesung Blödsinn verbreitete, in seiner Brust (gemeint ist meine Brust) leben zwei Seelen. Arschloch! Ich weiß, was ein Russe ist. Das sind liebenswürdige Menschen mit alle und alles umfassender (ironisch gemeint: fast katholischer – kath. heißt allerdings allumfassend) Liebe, diese aber jäh in Wut und Hass umschlagen kann, man lese nur die zwei Bücher von Karin Haß „Fremde Heimat Sibirien. Leben an der Seite eines Taigajägers“ und „Bärenspeck mit Pfeffer – Mein kleines Stück Sibirien -“, wenn man mir nicht aufs Wort glauben will. Nichts, auch nichts habe ich gemeinsam mit russischer Mentalität! Gut oder schlecht.
So soll der französische Schauspieler Gerard Depardieu nicht glauben und meinen, er kenne und verstehe bereits die Russen und deren russische Seele, kurzum die russische Mentalität. Wenn der sich nicht einmal täuscht! Die Zeit wird es ihm und uns noch zeigen. Franzose bleibt Franzose, wo er sich auch immer in der Welt herumtreibt!
Das ist einer der Gründe, dass ein echter russischer Dichter sich nur schwer ins Deutsche übertragen lässt, als Beispiel zwei höchst poetische Zeilen von Sergej Jessenin: „в стране берёзового ситца“** (wörtlich: im Land des birkenen Kattuns) oder „синь сосёт глаза“*** (wörtlich: das Blau saugt die Augen – gemeint ist das Himmelsblau). Russisch geht es bis auf den Seelengrund, deutsch klingt es linde gesagt gespreizt. Übrigens wie schwer das ist und wie man das macht, hat die glänzende Übersetzerin Svetlana Geier (2010 verstorben) am Beispiel der von ihr übersetzten Bücher von Dostojewski, der „Fünf Riesen“, wie sie selbst das nennt, mehr als überzeugend bewiesen.
Also, man wird als Russe geboren sein, um Russe zu sein. Und nicht wie ein großer Teil meiner russisch schreibenden russlanddeutschen Autoren hierzulande sich hin- und her gerissen fühlt: Bin ich Russe oder bin ich Deutscher? Die russischen Exilanten wie Bunin, Nabokov, Brodsky und viele andere waren und blieben russische Dichter und Schriftsteller, wenn einige von ihnen auch versuchten, deutsch oder englisch zu schreiben. Hat man eine russische Seele, bleibt man ein russischer Dichter mit entsprechenden seelischen Abgründen! Oder ist man Deutscher, mental mit einem ganz anderen Gedanken- und Gefühlsbefinden, woher immer das kommt und herrührt. Und das hat rein gar nichts mit Rassismus und Nationalismus zu tun.
* lies:tschushaja duscha - potjomki
** lies: w sstrane berjosowogo ssitza
*** lies: ssinj ssosjot glasa
Gerne können sie Wendelin Mangold auch ihre Meinung mitteilen