Wendelin Mangold - Sprung ins Wasser - Geleitwort von Alfred Büngen

Wendelin Mangold

Sprung ins Wasser

Integration -

Gedichte und Texte

Geest-Verlag 2011

ISBN 978-3-86685-290-7

12 Euro

 

„Sich aus dem Schatten des Gestrigen wagen“
Ein Geleitwort von Alfred Büngen

„Verehrter Leser, los, such dir selbst den Schluß! Es muß ein guter da sein, muß, muß, muß!“, schreibt Ber-tolt Brecht in seinem Epilog von ,Der gute Mensch von Sezuan’. Wendelin Mangolds ‚Sprung ins Wasser’ kann man letztlich als eine solche Aufforderung an uns Leser zum Finden eines ‚guten’ Schlusses im Migrationsprozess der Russlanddeutschen in der Bundesrepublik verstehen. Seine Lyrik bereitet für uns und auch für die Betroffenen die Problemstellungen dieses Migrationsprozesses in literarisch verdichteter und zugleich feinfühliger Weise auf, verlangt zudem vom Leser eine weiterführende Handlung.
Natürlich weiß der Autor sehr genau, wovon er spricht, ist er doch schließlich selbst in doppelter Weise betroffen. Er selbst ist Spätaussiedler und war zu-dem viele Jahre in der Betreuung der Aussiedler tätig.
In insgesamt sechs Kapiteln bereitet Mangold die Problemlage der Spätaussiedler feinfühlig und auf ei-nem bemerkenswert hohen sprachlichen und hand-werklichen Niveau auf. Das Einleitungskapitel „Hier“ gibt uns differenzierte Einblicke in die Gefühlswelt der Angekommenen in der Bundesrepublik. „Fett ist die Milch. / Frisch ist das Brot. / Trotzdem / Sind alle ir-gendwie tot.“ Wie könnte man eindringlicher die Kälte beschreiben, die „die Ahnungslosen“ bei ihrer Übersiedlung in die Bundesrepublik empfängt. Niemand hat sie gerufen „Zum Essen // Vom hiesigen Kuchen“. Ihre Hoffnungen, Wünsche und Träume zerplatzen rasch, ihr Selbstwertgefühl degradiert zu einem „Personalpronomen“, wie dieses drohen sie „gesichtslos“ zu „Verkümmern“, sie fühlen sich als Zugvögel zwischen den Welten, als „Zwilling“.
Von der neuen Heimat weitgehend unbeachtet und unberücksichtigt, musste von den Aussiedlern die Auf-arbeitung der Problemlage der Unterdrückung und Ausgrenzung in der sowjetischen Gesellschaft durch-geführt werden. „Dort“ benennt Mangold dieses Ka-pitel, und zeigt bereits in der Formulierung gegenüber anderen russlanddeutschen Autoren die Grenzziehung des Vergangenen deutlich an, ‚verkommt’ nicht in ei-ner endlosen Leidenskultur, da er stets das Heute, Gestern und Morgen in Verbindung bringt.
Die ganze Breite und Tiefe seiner faszinierenden Sprach- und Symbolkraft bietet der Autor dann auf, um die Problemstellung der Angekommenen im dritten Kapitel in die lyrische Sprache zu transformieren. Allein das Vorhaben, sich der aktuellen Problemlage zu stellen, dem viele russlanddeutsche Autoren auswei-chen, verdient schon ein besonderes Lob, die emotio-nale Feinfühligkeit des Erfassens und Darstellens erhebt die Lyrik dieses Kapitels sicherlich in den Stand der aus der Geschichte der russlanddeutschen, aber auch bundesdeutschen Literatur nicht mehr fortzu-denkenden Gedichte. „Bei hohem Wellengang / Mei-ner dunklen Seele, / Schwimmt nicht selten / Eine Angstleiche hoch – / Und ich habe große Mühe, / Sie wieder umzubetten.“
„Angelehnt“, so der Titel des vierten Kapitels, setzt diese Gefühlslage der Angekommenen in der Ausei-nandersetzung mit den Gedanken bedeutender Den-ker und Literaten fort, demonstriert zudem die litera-risch-philosophische Kompetenz Mangolds.
Eine für die russlanddeutsche Literatur typische Hinwendung zum Humor findet sich im fünften Kapitel. Fast scheint es, dass spezifische Problemstellungen nur mittels Witz und ironischer Brechung zu bewälti-gen sind. Mangold verlässt in diesem Kapitel nie den Pfad des Hintergründigen, gleitet niemals in das oberflächlich Verletzende ab. Die humoreske Ebene der russlanddeutschen Literatur findet hier eine wichtige lyrische Ausformung.
Das abschließende Kapitel nimmt Gefühle und Gedan-ken der Angekommenen neu auf und verarbeitet sie in postmodernen Formen der Poesie. Sie geben Zeugnis davon, welches breite formale Spektrum der Autor mit poetischer Leichtigkeit beherrscht.
Insgesamt also ein Band, der in seiner Bedeutung nicht allein für die russlanddeutsche Literaturentwicklung gar nicht hoch genug einzuschätzen ist. Er schafft auf lyrischem Weg – welch literarisches Genre kann die emotionale Vielschichtigkeit der Problematik besser einfangen – Einsichten, dass der Integrationsprozess der russlanddeutschen Bevölkerungsgruppe in der Bundesrepublik ein mit hoher Sensibilität voranzutreibender ist, aber auch die eindeutige Notwendigkeit des Vorantreibens, des ‚Nicht-Verharrens’. Mangolds Lyrik wagt sich heraus aus dem Schatten des Gestrigen, setzt neue Akzente weit über den Rahmen der russlanddeutschen Literatur hinaus.