Wendelin Mangold: Streit (eine Erzählung)
STREIT
Ausgang Oktober. Klarer Himmel. Spät nachmittags. Ich war fast am Ende meines ausgiebigen Waldspaziergangs, als ich in der Ferne Kranichlaute vernahm. Nichts Ungewöhnliches zu dieser Jahreszeit. Mein Herz schlug hoch: Wieder einmal Glück gehabt, das Naturschauspiel erleben zu dürfen. Jedoch das herbstbunte Laub der hochgeschossenen Baumwipfel gaben bloß blaue Himmelsflecken frei, so dass ich mich beeilen musste, um möglichst schnell aus dem Wald heraus zu kommen und die ziehenden Kraniche beobachten zu können. Mit letzten Kräften arbeitete ich mich mit meinen Gehstöcken den steilen Hang hoch ins Freie. Die Kraniche zogen schon über meinem Kopf hinweg in gewöhnlicher Keilform, wenn auch ein Ende kürzer war als das andere. Auch ihre Laute kamen mir ungewöhnlich schrill vor, nicht wie immer. Was haben die? Sind sie müde? Suchen sie nach langem Flug einen geeigneten Rastplatz? Gewöhnlich zogen sie über unseren Taunus weiter Richtung Süden in das Schongebiet am Rhein. Jährlich dasselbe.
Plötzlich verformte sich der Keil und die Kraniche begannen laut schreiend sich im Kreise chaotisch zu drehen direkt über unserer Stadt, Königstein im Taunus, als wüssten sie nicht mehr weiter. Und das ging so einige Minuten lang. Immer wieder wurde versucht, einen Keil zu bilden, aber es gelang nicht. Plötzlich löste sich ein Kranich vom Schwarm und nahm entschieden die Richtung Nordost am Feldberg vorbei, ihm folgte dann noch ein Kranich; die zwei entfernten sich immer weiter von der Gruppe. Die zurückgebliebenen Kraniche schweiften immer noch im Kreise, bis endlich ein neuer Keil entstand, der die südwestliche Richtung nahm.
Komisch. Ungewöhnlich. Da erinnerte ich mich an den Vortrag eines namhaften Professors (Name und Thema leider vergessen) vor geraumer Zeit. Es ging um Zugvögel und ihre Flugrouten, eines der merkwürdigsten Naturphänomene. Wie finden die Vögel ohne Navigationssystem den Flugweg hin und zurück? Haben die womöglich ein implantiertes Chip? Finden alle Vögel und immer den richtigen Weg? Ist dieser natürliche Chip bei allen Vögeln immer ohne Defekte? Und da erfuhr ich zum ersten Mal, dass es gelegentlich Fälle gibt, da die Vögel von der gewöhnlichen Flugroute abkommen und so in einen neuen Ort gelangen, dabei in diesen für sie neuen Naturverhältnissen entweder umkommen oder überleben. Im letzten Fall, dem Glücksfall, gewinnen diese Vögel eine neue Zug- und Flugroute.
Nun wäre es interessant zu wissen, wo sich diese zwei zum Überwintern niederlassen und ob sie am neuen Ort überleben. Warum mich das so bewegt? Vielleicht, weil ich selbst ein Ausreißer bin, der ich vor einigen Jahren aus Russland nach Deutschland ausgesiedelt bin und fast drauf gegangen wäre. Hernach zogen Tausende und abermals Tausende nach: Russlanddeutsche Zugvögel!