Wendelin Mangold - VECHTA, HIN UND ZURÜCK AM 18.-20.04.2018
Wendelin Mangold
VECHTA, HIN UND ZURÜCK
AM 18.-20.04.2018
Reisezyklus
Für Alfred Büngen
Auf der Hinfahrt
***
Der Tag fing sonnig an, der Zug hatte
keine Verspätung, der reservierte Platz
war frei, die Abfahrt war pünktlich… Was
will man mehr? Die Reise kann beginnen!
Nach einer zweistündigen Fahrt kam die
Durchsage: Meine sehr geehrten Damen und
Herren, aufgrund eines Personenunfalls
wird unser Zug umgeleitet. Ich bitte um Ihre
Aufmerksamkeit auf weitere Informationen.
Nun haben wir den Salat! Wer ist lebensmüde
geworden an diesem herrlichen Frühlingstag?
Was ist ein Cent wert
Was kann man für eine 1Centmünze
kaufen? Nichts! Worin besteht dann sein
materieller, sein ideeller Wert? Wozu wird
sie dann geprägt, gestanzt? Und ist nicht unser
Leben ihm ähnlich – nichts wert! Außer dass es
durch Geschlechtsverkehr entsteht, mehr oder
weniger zufällig, gewünscht oder auch nicht,
zugelassen oder abgetrieben, geduldet oder
wie unsereiner vertrieben.
***
Neben mich, am Gang sitzend,
setzte sich am Fenster eine junge Frau.
Ist das Ihr Jackett? fragte sie mich. Ich darauf:
Ja, ich hoffe, es stört Sie nicht. Und so fuhren wir
eine ganze Weile, sie ins Handy, ich ins Buch
vertieft. Nun, da ich früher aussteigen musste,
nahm ich mein Jackett vom Haken und
bedankte mich: Danke, dass Sie gut
aufgepasst haben! Übrigens ist es noch neu,
und ich habe es das erste Mal angezogen.
Ja, und noch etwas, unsere Plätze sind für
Behinderte und Schwangere vorgesehen.
Ich bin schon alt und darf? Sie hat den Scherz
verstanden. Da sie nicht altersbehindert war,
blieb nur noch der zweite Fall. Zu sehen war
aber noch nichts, vielleicht irgendwann.
***
Vom langen Fahren brannten mir schon
die Augen und fühlten sich trocken an,
als ob ein Reibeisen Tränen raspelte.
Rechtfertigung
Was ist ein Russe? Wie ist ein Russe?
Stimmt es auch, was man schon immer
über ihn schrieb und dauernd schreibt?
Ist er so anders als wir? Soll man vor ihm
Angst oder Respekt haben, oder einfach ihn
auf den Mond schicken und so tun, als ob
es ihn überhaupt nicht gibt? Nun, sag
doch was dazu, du kommst doch von daher,
aus Russland! Und bist du nicht selbst
Russe? Nein, bin ich nicht! Höchstens
zum Teil: Russlanddeutscher.
Passagier
Unser Zug läuft an Dörfern und Städten
vorbei, an Wiesen und Äckern, an Bergen
und Wäldern, an Kühen und Schafen.
Unser Zug erfüllt seinen Reiseplan,
ich sitze am Fenster, nicke und schlafe.
Und hab ich keine Lust mehr,
spring ich vor den Zug,
und mir sagt niemand,
war das dumm oder klug.
Schmarotzer
Der Nachtfalter, madig und gepudert,
übernachtete in meinem Kleiderschank
auf dem Kragen meines nach mir
riechendem Gehrocks. Wer hat ihn
hereingelassen? Ohne Erlaubnis? Solch
eine Frechheit! Frau, wo ist das
Naphthalin? Gleich zeig ichs ihm!
Frisches Fleisch
Nach der zwei- bis dreijährigem Pflichtdienst
und soldatischem Drill in der Sowjetarmee
direkt nach dem Schulabschluss fielen viele
junge Soldaten herein, indem ihnen eine
konkurslose Immatrikulation an Hochschulen
in Aussiecht gestellt wurde und eine vorfristige
Entlassung aus der Armee. Ein ideologischer Köder,
versteht sich und viele bissen an als Kandidaten
für die Kommunistische Partei der Sowjetunion.
Auf der Rückfahrt
***
Nun bin ich genug von der Realität
abgestumpft, so dass ich loslegen kann
im Sinne von Dichten. Was noch alles
heute mich unterwegs erwartet!
***
Die Zugbegleiterin, die ich wegen Verspätung in
Sorge fragte: Schaffe ich noch den Anschluss?
Sie in vollem Ernst: Halten Sie sich an die Gruppe
von Leuten vor Ihnen, die haben dasselbe Ziel.
Na, ja, dachte ich mir, die sind alle bedeutend
jünger als ich, gesund, vital und jovial, laut
schwatzend und lachend, ein paar Männer
von ein paar Frauen durchsetzt, leicht bekoffert.
Als der Zug mit Verspätung endlich eintrudelte,
und die Wagentür aufsprang, hat nun das
Marathon von Gleis 13 zum Gleis 2 angefangen:
Und los gings! Wer ist als erster am Ziel?
Über Stufen und Treppen, über Hals und Kopf.
Japsend als letzter am Ziel angelangt, sagte ich
zu den Leuten: Na, ihr seid mir aber Helden!
Habt doch gehört, was die Schaffnerin gesagt hatte?
Und was macht ihr? Lasst im Stich mich alten!
***
Ich fragte zwei vor mir schreitenden
jungen Leute: Wie komme ich auf Gleis 1?
Wie liebenswürdig sie waren, zeigten sie
mir den Übergang über die Zuggleise. Ich,
gut ausgeschlafen und noch besser
gefrühstückt, also bestens zum Scherz
aufgelegt: Und wenn mich der Zug
überfährt? Der Funke hat wohl gezündet,
und einer von ihnen, zu mir halb gewendet:
Das interessiert eh niemand! Ich bedankte
mich: Gut gesagt! Aber das gab mir gleich
zu denken: Bin ich schon so alt, oder so
ausländisch fremd hier? Oder einfach so,
ohne zu wissen, wer ich bin und woher
ich komme.
***
Am reservierten Wagen angekommen,
zog ich meinen Rollkoffer voller Bücher,
schwer wie Backsteine, aha, daher kommt
wohl der Ausdruck mir liegt etwas schwer
im Magen, zur Gepäckablage am Fuß-oder
Kopfende, je nachdem in welcher Richtung
der Zug gerade fährt. Nun war es tatsächlich
das Fußende, was man schon am käsigen
Geruch erahnen konnte. Und was weiter?
Da standen zwei Damen. Und da ich ihnen
den Durchgang versperrt habe mit meinem
Kofferungetüm, fragten sie bittend, wenn
auch nicht bettelnd: Dürfen wir durch?
Ich, zum Platzen voller Laune: Und ich habe
gedacht, Sie wollen stehen. Eine von ihnen,
wohl von meiner Laune angestachelt: Das
hätte Ihnen so gepasst! Ich war von der
Blitzreaktion angenehm überrascht,
hätte aufjaulen können: Hurra!
Der Tag ist gerettet!
***
Endlich im Zug, der wohl nicht ohne
Verspätung fahren kann, waren es auch
nur leidliche paar Minuten sind. Nichts als
rein in den reservierten Wagen und Platz
durch das m Gang stehende Handgepäck,
die ausgestreckten langen Beine und
spitze Ellbogen gleich Fischfanghaken.
Puh! Mein reservierter Platz war am Fenster,
daher musste ich den älteren Herren,
wie leid es mir auch tat, höflich bitten,
mich zum Fenstersitz durchzulassen.
Er hatte nichts dagegen, ich bedankte mich.
Hingeplumpst, fragte ich ihn: Muss man sich
auch anschnallen? Und der hat nicht einmal
gefragt, woher ich, komischer Vogel, überhaupt
komme. Und gut so, sonst hätte ich noch
die ganze Odyssee der Russlanddeutschen
erzählt, und wer will das schon wissen.
Familenpolitik
„Die Gedanken sind frei“(deutsches Volkslied)
Wie gründlich und total der Sowjetstaat
uns Russlanddeutsche überwacht hatte,
war es ihm trotzdem unmöglich, unsere
Familienopposition auszurotten: Draußen
den Mund halten, war unsere Parole!
***
Beim Aussteigen hat eine ältere Dame
ihren Koffer mit meinem verwechselt,
worauf ich: Lassen Sie meinen Koffer
stehen! Oder suchen Sie den größten
und schwersten? Sie quittierte mich
mit einem lauten Lächeln. Ich für mich:
Was ist denn heute mit den Leuten los?
Ist der Tag des Verwechselns angesagt!
Entschuldigung,
dass ich meine Texte nicht rhythmisch
festgebunden und mit Reimen getackert,
sondern einfach gepflügt und geackert.
***
Die Spannung war wohl zu groß
bei der Anfahrt und dem Auftritt
in Vechta, angepeilt das Ziel am
zweiten Tag in Cloppenburg, endlich
der Abschuss, ein Pfeil nach dem anderen.
Ich hoffe, nicht alle übers Ziel hinaus.
***
Mir juckte plötzlich der Kopf und ich
kratzte instinktiv die Kopfhaut: Nanu?
Was spür ich da durch das schüttere
graue Haar? Wachsen da nicht schon
welche Gedanken und Sorgen aus dem
Gehirn heraus? Wenn dem so ist, dann
in welcher Sprache, deutsch oder
russisch, möchte ich schon wissen?
Warum ist nur alles so kompliziert!
***
Mein Nachbar stieg in Dortmund aus,
da fragte eine neu zugestiegene Dame,
welchen Platz der meine sei, am Fenster
oder am Durchgang. Ich darauf: Steht da
nicht mein Name auf der Anzeigetafel?
Die Antwort folgte mit einem schelmischen
Lächeln: Nein, leider nicht. Ich darauf, mit
meinem Scherz zufrieden: Am Fenster.
Da kam der Schaffner vorbei, um die Tickets
zu kontrollieren und zu stempeln. Ich zu ihm:
Und Kaffee, inklusiv? Er ernst: Nix da. Extra.
Dem Bürgermeisten von Molenbeek
in Belgien gewidmet
Geht euch jemand ziemlich auf den Sack,
holt nicht gleich die Fäuste aus der Jack‘,
sondern kommt zu mir, erzählt die Geschicht‘,
und ich versichere euch, ihr bereut es nicht.
Bräuchten nicht auch wir, die anders sind,
einen Bürgermeister, der nicht blind.
***
Die lyrischen Werke, ob Gedichte
oder Poeme, von Anna Achmatowa,
der Granddame der russischen Poesie,
sind schön durchweg gereimt. Als ich
die deutsche Übersetzung ihrer Werke
zum ersten Mal zu lesen bekam, waren
sie meist ungereimt. Da bekam
ich die Lust, sie auf Biegen und Brechen
nachzureimen. Leider begann der Inhalt
sich zu rächen.
***
Plötzlich verbreitete sich
ein unangenehmer Geruch
im Wagen. Ich schnüffelte,
drehte den Kopf, suchte
die Quelle, den Ursprung
des sich ausgebreiteten
Geruchs und wurde immer
unruhiger: Ob nicht die Russen
Giftgas , wie übrigens im Falle
des Exspions Skripal, in den
Wagen geschmuggelt haben.
Oder hat vielleicht bloß einer
der Passagieren heimlich
einen faulen fahren lassen.
***
Ich habe mich beim Hotelbesitzer
bedankt und mich vor dem Huhn,
dessen Ei ich beim Frühstück
geköpft und aufgegessen, entschuldigt.
Übrigens habe ich das Eierköpfen gelernt,
dank meiner Frau, die darauf bestand,
damit ich anstandshalber es hier tue,
Knigge lässt grüßen. In Russland wäre
so etwas einer Freveltat gleich, dort
klopft man ein Ei auf am Tellerrand oder,
wer weiß womit und worauf laut auf,
ist man genug intelligent. Denn geköpft
werden in Russland Menschen, doch nicht
Hühnereier!
Nun zurück zum Erzählfaden: Ich habe mich
auf die verschwitzen Socken rückfahrend
gemacht, zuerst Richtung Osnabrück,
dann Richtung Münster, Dortmund,
Wuppertal, Essen, Köln, dann weiter
Richtung Bonn, Koblenz, Mainz,
Frankfurt, zum Schluss mit der
Kleinbahn nach Königsein im Taunus.
Traurige Bilanz
Auf dem Hinweg hat sich einer
oder eine unter unseren Zug
geworfen, auf dem Rückweg
hat sich wieder einer oder eine
unter unseren Zug geworfen.
Somit haben wir zwei Lebensmüde
überfahren. Ich hoffe, keiner oder keine
meiner russlandeutschen Landsleute.
***
Die Mentalität Was-hab-ich davon?
Statt Solidarität ist typisch für meine
russlanddeutschen Landsleuten –
Ich bin doch nicht blöd!
***
Mein Vortrag in Vechta und meine
Lesung in Cloppenburg, beide fanden
in Museen statt. Kein Ding, wir
Russlanddeutsche sind, wenn mans
nimmt, bereits ein musealisches
Relikt, wenn wir auch noch nicht alle
ins hiesige Gas gebissen haben.
***
Der Zug hatte Verspätung,
die Wartenden traten auf dem
Betonbahnsteig sich schon
die Beine in den Bauch.
Endlich fuhr der Zug verschlafen
und verspätet mit einem
unschuldigen Gesicht ein.
Was geht ihn das an, dass ich
nun den Anschluss in Osnabrück
unverschuldet schuldig verpasse:
Wir Russlanddeutschen kommen
halt immer zu spät!
Inkontinenz
Als wir entlang des Wassers fuhren,
lag der Rhein faul und fett
in seinem Bett.
Ich rief ihm auf Russlanddeutsch zu:
Steh uf, tu olte Kuh, schluss mit ta Ruh,
dein Bettzeich is schon voller Spuren!
***
Durch die Ausreise habe ich
alles von mir abgeschüttelt,
waren ich und mein Leben doch
ziemlich zerrüttet.
Hier lud ich Neues auf mich auf:
Arbeit, Wohnung…lauf-lauf-lauf!
***
Ein Flugzeug, wie ein
Stift zugesitzt,
nahm die Richtung
Flughafen Frankfurt,
gerade wohin unser Zug
gemächlich trippelte.
Und die Sonne schien
stur durchs Wagenfenster:
Hat sie denn keine Uhr,
eine Sonnenuhr?