Wendelin Mangold - Wie ich Dichter wurde
WIE ICH DICHTER WURDE
Wie kommt man zum Schreiben, ist eine laufende Frage der neugierigen Leser. Wohl gibt es keinen einzigen Schriftsteller, der ihr entkam. Dabei hat fast jeder Schriftsteller eine plausible Antwort, um den Leser zufrieden zu stellen: bald war es das Elternhaus, bald ein Lehrer usw. – das Arsenal ist unerschöpflich –, überprüfen lässt sich das sowieso nicht.
Nun, wie ich zum Dichten kam, bleibt selbst für mich ein Rätsel. Denn alles in meinem Groß- und Erwachsenwerden, meinem Schicksal lief darauf hinaus, es nicht zu werden, weder das Elternhaus noch ein Lehrer waren es, die in mir den Dichterfunken entzündet haben. Manchmal denke ich, ich bin gar kein Dichter und bilde das mir nur ein.
Sollte ich aber sarkastisch denken und garstig werden, ist die bolschewistisch-leninistisch-stalinistische Politik und Ideologie und selbst der Zweite Weltkrieg, der vor meiner Geburt in Europa ausgebrochen ist und mich in meinem Geburtsort erreicht hatte, als Folge Flucht in den Westen und Verschleppung in den Norden des Urals in eine Waldsiedlung inmitten der undurchdringlichen Taiga, ohne welche Aussicht, ihr irgendwann zu entkommen. Ja, und noch ein Omen ist in dieser Hinsicht zu bezeichnen, kurz vor meiner Geburt wurde unser deutsches Dorf umbenannt, ohne die Einwilligung der Einwohner einzuholen. Nun trug mein Geburtsort den Namen eines bekannten nationalen Dichters, den die Schwarzmeerdeutschen, fleißige und arbeitsame Bauern, aus deutschen Landen Anfang des 19. Jahrhunderts von russischen Zaren mit Versprechungen hierhergelockt, bis dahin nicht kannten.
Es gebraucht eines Talents, vor allem das Talent mit Worten umgehen zu können, und habe ich überhaupt solch eins und wo nistet es in meinem Gehirn? Alles andere ist bei starkem Willen dazuzulernen. Ich meine aber, bei mir überwog, infolge meines turbulenten Schicksals, reich an Schicksalsschlägen und arm an Schicksalsfreuden, die Fähigkeit zu träumen und zu fantasieren, arm und entrechtet, wie wir Russlanddeutsche waren.
Obwohl meine Eltern, selbst ohne jegliche Bildung geblieben, dafür kein Verständnis hatten und sich darum nicht kümmerten, der Sowjetstaat mich als Arbeitssklave im Plan hatte, wurde ich Dichter.
Wendelin Mangold