Wunderbare Lesung mit Maria Buchtijarova in der pro vita

Maria Buchtijarova und Alfred Büngen gestalteten gestern die Lesung in der pro vita. Die gerade einmal 15jährige Maria, die vor zwei Jahren aus der Ukraine flüchtete, schreibt in einem geraezu perfektem Deutsch, Kurzgeschichten und Gedichte, von denen sie einige an diesem Nachmittag vortrug. Zwischendurch führte Verlagsleiter Alfred Büngen mehrere kurze Interviews mit ihr, bei der auch das Publikum eingebezogen wurde. Zudem las Herr Büngen noch einige kurze Geschichten und Gedichte aus der Jugendantholie zum 6. Vechtaer Jugendliteraturpreis.

Das Publkum folgte der Lesung äußerst aufmerksam und bedankte sich viel Beifall für die überzeugene Lesung, die das Thema Krieg und Flucht aus der Sicht betroffener Jugendlicher schilderte. Zum Teil einfach Gänsehaut-Empfindungen. Vie ältere Besucher stellten auh die Verbindung zu eigenem Kriegs- und Fluchterleben her.

Hoer ein Text der jungen Autorin:

 

 

Maria Buchtijarova
Liebe lebt unter den Dornen

Ich liebe diese Minuten. An einem Winterabend krab-bele ich unter die Decke meiner Mutter und frage sie: Na – erzähl mir mehr, wie war’s?
Ich mochte als Kind keine Märchen. Oder besser ge-sagt, anfangs mochte ich sie, aber dann habe ich sie nicht mehr gemocht. Ich mochte sie überhaupt nicht. In einem Kindergarten in der Ukraine wurden wir während der Bombardierung in den Keller gebracht. Wir liefen lange Zeit die steilen Treppen hinunter und trugen die Kleinen auf dem Arm. Und dann, im Keller, war es dunkel, feucht, kalt und sehr beängstigend. Wir hatten Angst und weinten. Und die Kindergärtnerin hat uns Märchen erzählt. Ganz laut. Sehr laut. Und sehr seltsam. Sie lachte. Und das machte es noch unheimlicher. Seitdem mag ich keine Märchen mehr.
Wir schrieben das Jahr 2015. Ich war fünf, als wir Do-nezk verließen und an einen sichereren Ort zogen. Meine Mutter und ich lebten allein, und um uns her-um war es immer noch turbulent. Damals begann meine Mutter, mir statt Märchen Geschichten über die Kinder zu erzählen, mit denen sie arbeitete. Und sie hatte eine Menge Geschichten. Sehr viele Ge-schichten. Und sie weiß, wie man sie erzählt. Vor dem Krieg arbeitete meine Mutter in der Kinderbe-treuung. Meine Mutter stellte mir nur eine Bedingung: ein Abend, eine Geschichte. Einige dieser Geschich-ten habe ich mehr als einmal gehört. Ich habe meine Lieblingsgeschichten. Und jetzt frage ich: Erzähl mir, erzähl mir von der Katze!
– Nicht von der Katze, sondern von Anton.
– Von Anton und der Katze!
– Okay. Er war ungefähr sechs oder sieben Jahre alt. Er wuchs in einer normalen Familie auf. Und dann starb sein Vater. Und seine Mutter fing an, Alkohol zu trinken. Sehr viel Alkohol. Sie nahm Fremde mit nach Hause. Und diese Leute haben auch getrunken. Manchmal stritten sie und schlugen sich. Und sie be-schimpften Anton. Anton weinte nicht, Anton fluchte. Er fluchte mit schrecklichen Worten. Er versuchte, seiner Mutter zu helfen, versuchte, die Hausarbeit zu erledigen, und konnte sogar selbst Brei kochen. Als er sechs Jahre alt war, ging er nicht in den Kindergarten. Er ging nicht in den Kindergarten und hatte keine Freunde. Und das einzige Lebewesen, das Anton lieb-te und nicht beleidigte, war eine Katze. Eine alte, graue Katze mit einem abgerissenen Ohr. Sie schliefen zusammen und gingen zusammen spazieren. So leb-ten sie.
– Und dann? Was passierte dann?
– Wir arbeiteten mit ihnen und versuchten, sie zum Erwachsenwerden zu bewegen. Aber es war sinnlos. Die Mama hat immer mehr getrunken. Als es ganz schlimm wurde, wurde Anton seiner Mutter wegge-nommen. Der Mutter wurde das Sorgerecht entzogen. Anton wurde von einer Familie aufgenommen. Eine gute, freundliche Familie. Es war schwer für Anton, sich daran zu gewöhnen, sehr schwer. Er war stache-lig – wie ein Igel. Er fluchte viel. Wie er fluchte!
– Und was war mit ihnen? Was taten sie?
– Sie wussten alles über Anton. Sie haben alles ver-standen. Sie warteten auf ihn. Und eines Tages er-zählte Anton seinem Ziehvater von seiner Katze. Er war sehr traurig und machte sich Sorgen um seine Freundin.
– Und sie kauften ihm ein Kätzchen?
– Sie kauften das Kätzchen später. Und dann setzte der Vater den Jungen einfach ins Auto, und sie fuhren zu seinem früheren Haus, um die Katze zu suchen.
– Haben sie sie gefunden?
– Nein. Sie durchsuchten alle Höfe in der Umgebung, alle Mülltonnen. Sie fragten alle Nachbarn nach der Katze. Sie haben die Katze nie gefunden. Aber dieser Moment wurde zu einem Wendepunkt in ihrem Le-ben.
– Warum?
– Dies war der erste Erwachsene in Antons Leben, der sich seiner Probleme annahm und versuchte, sie zu lösen.
– Aber die Katze wurde nicht gefunden.
– Aber zum ersten Mal in seinem Leben glaubte An-ton einem Erwachsenen. Es brauchte noch ein wenig Zeit und er nannte ihn Vater.
– Und alles wurde wie in einem Märchen?
– Wie in einem Märchen, nur eben nicht in einem Märchen. Alles wurde wie im richtigen Leben. Ein normales, glückliches Leben. Am Anfang nicht. Die drei mussten noch viel durchmachen. Aber alles wur-de gut. Und so wurde Anton ein Kätzchen gekauft. Und er ging in die Schule. Und in den Ferien ging er ans Meer. Er lernte schwimmen. Und wie man Fahr-rad fährt. Und Anton hörte auf zu fluchen.
– Warum denn das?
– Warum? Sein Vater flucht nicht. Niemals.
– Erzähl mir mehr!
– Nein, das werde ich nicht. Wir haben eine Abma-chung. Ein Abend, eine Geschichte.
Und wir reden lange im Dunkeln. Über das Leben. Über die Menschen. Über die Liebe.
Mamas Geschichten sind unterschiedlich: traurige und glückliche, gute und weniger gute, lustige und tragische. Und jeden Abend bitte ich meine Mutter, sie mir wieder und wieder zu erzählen. Eines Tages werde ich mich bestimmt an alle erinnern und sie alle aufschreiben.
Ich mag einfach keine Märchen. Überhaupt nicht.