Anna Skorobogatova - Wir krochen aus den nassen Schlafsäcken (Kinder und Jugendliche melden sich zu Wort am 28.1.)
Hördatei:
Wir krochen aus den nassen Schlafsäcken
Auf den steilen Hängen lagen lange blasse Ne-belstreifen, die Gipfel
versteckten sich noch hin-ter den Wolken, und der Fluss unten donnerte,
gestärkt vom nächtlichen Gewitter. Wir krochen aus den nassen
Schlafsäcken und freuten uns über die ersten Sonnenstrahlen. Die Nacht
war endlich vorbei, es war der Anfang einer Alpen-wanderung. Jeder
Schritt versprach mir, etwas Neues zu bringen. Wie auch sonst im Leben,
denn es ist ja auch eine Wanderung.
Wie wertvoll zufällige Bekanntschaften werden können, kann man nur
vermuten. Ich weiß nicht, ob die Menschen, die ich jetzt als Freunde
bezeichnen kann, verstehen, wie wichtig es für mich damals war, von
ihnen als „Kollege“ und „Mitspieler“ betrachtet, weder neutral, noch
be-tont rücksichtsvoll behandelt zu werden, und ob sie eine Vorstellung
davon hatten, wie sehr ich ihr Vertrauen rechtfertigen wollte. Ich
verbrach-te sehr anspruchsvolle, aber unvergessliche Ta-ge in einem
Ferienlager in Bayern, wo ich nicht nur Erfahrungen sammelte, sondern
auch die Schönheit der deutschen Natur kennen lernte.
Damals wurde mir klar, dass der Stress der ers-ten Monate in
Deutschland vorbei war. Für jeden ist die erste Zeit im Ausland
unruhig, egal, in welchem Alter man ist. Das ist normal: Ein Um-zug in
ein Land, das Tausende Kilometer von der Heimat entfernt liegt, kann
nicht unbemerkt an einem vorbeigehen. Umso glücklicher ist man, wenn
man mit der eigenen Seele sagen kann: Ich fühle mich da wohl.
Dieses Land ist freundlich zu mir. Ich habe in ihm Freunde gefunden und
Dinge erlebt, die ich so schnell nicht vergessen werde. Schließlich
habe ich von ihm aus auch einige andere Länder Europas besucht. Ist das
nicht genug?
So schön war aber nicht alles. Ich war wirklich gekränkt, als ich
einmal in der Schule in Rus-sisch nur eine Zwei bekommen habe. Es ist
ü-berflüssig zu sagen, dass ich in dieser Sprache, meiner
Muttersprache, sehr gut bin und auch früher darin immer die beste Note
gehabt habe. Meine Kenntnisse der Sprache und der Literatur sollten
damals dem Niveau einer Klausur ange-passt werden. Als ob man von einem
ganzen Eisberg nur den Teil sehen wollte, der über Was-ser lag!
Bedeutet das, dass manche uns zeigen wollen, wie wenig wert wir sind?
Hoffentlich nicht!
Glücklicherweise habe ich eine andere Möglich-keit gefunden, an die
Universität zu gelangen, und habe sie genutzt. Dabei habe ich auch
an-dere Ausländer kennen gelernt, die den Traum haben, in Deutschland
Medizin zu studieren. Man versteht seine Lage viel besser, wenn man
andere kennt, die in einer ähnlichen sind. Trotz der vielen Prüfungen
ist dieser Weg bisher ein guter gewesen. Unsere deutschen Lehrer
brin-gen uns nicht nur Naturwissenschaften, sondern auch Toleranz,
Offenheit und Optimismus bei. Für mich ist das alles sehr interessant.
Die Zeit vergeht. Wir werden älter und lernen, die zwei Kulturen, die
wir in uns tragen, nicht gegenüber, sondern nebeneinander zu stellen.
Alles ist möglich, wenn man daran glaubt. Für meinen Lebensweg
besonders wichtig sind die folgenden Worte: Wo kämen wir hin, wenn alle
sagten: „Wo kämen wir hin?“, und niemand gin-ge, um zu schauen, wohin
man käme, wenn man ginge? Alles Gute!
Anna Skorobogatova (19 Jahre)