Jan Malescha - Morgen finde ich eine Arbeit (Jugendliche melden sich zu Wort am 14. Oktober)

Hördatei: 

Morgen finde ich eine neue Arbeit

„Herr Vassili, ich wünsche Ihnen alles Gute und – passen Sie gut auf
sich auf!“ Die nette kleine Krankenschwester drückt mir die Hand und
verschwindet schnell in einem Krankenzimmer. Langsam verlasse ich das
Krankenhaus. Wie war ich dort hingekommen?

Meine Gedanken schweifen zurück, viele Jahre zurück. In unserem Dorf
gab es keine Arbeit. Deshalb haben mich meine Eltern nach Sibi-rien,
ins kalte Sibirien geschickt. Dort sollte ich arbeiten und Geld nach
Hause schicken. So hofften sie, mit meinen Geschwistern einiger-maßen
leben zu können. Die Anreise dauerte zwei Tage. Endlich konnte ich mich
ausruhen, und ich schlief auch sofort ein.

Die ganze Nacht höre ich ein Geräusch, einen dumpfen Klang, so, als
ob ein Hammer auf Ei-sen trifft. Ich träume. Von weit her höre ich eine
Stimme: „Aufstehen! Aber zack, zack!“ Ich versuche die Stimme
einzuordnen, aber es ge-lingt mir nicht. Ich kenne sie noch nicht. Ich
bin erst seit gestern hier. Langsam stehe ich auf und gehe aus dem
Zimmer. Plötzlich falle ich zu Boden, weil ich einen Stockhieb
abbe-kommen habe. „Nicht so langsam!“, schreit die gleiche Stimme, die
mich geweckt hat. Eines weiß ich sofort: Ich muss hier weg. Und zwar so
schnell wie möglich.

Mein Rücken schmerzt. Ich zwinge mich aufzu-stehen. Der Mann, der
mich geschlagen hat, schiebt mich vor sich her: „Du wirst genau da
hinten arbeiten! Und zwar genau so lange und ohne Pause, bis ich dir
sage, dass du dich aus-ruhen darfst!“ In einer großen Halle zeigt er
auf meine Arbeitsstelle: einen Amboss und ei-nen Hammer. Ich soll Eisen
in bestimmte For-men schmieden. Und zwar in großen Mengen. Ein junger
Mann, er wird Dimitri gerufen, soll mir dabei helfen.

Mein Gefühl sagt mir, dass ich hier weg muss, wenn ich nicht den
Rest meines Lebens so verbringen will. Ich spreche mit Dimitri. Auch er
will weg. Als der Boss kurz auf die Toilette geht, ergreifen wir die
Initiative und rennen, so schnell wir können, aus der Schmiede in die
sibirische Eislandschaft. Zum Glück weiß Dimit-ri, wie wir in die
nächste Stadt gelangen und von dort aus das Land verlassen können. Er
will nach Deutschland. Einige Verwandte leben dort im Ruhrgebiet. Sie
arbeiten im Bergbau und verdienen gutes Geld. Das will er auch.

So kamen wir ins Ruhrgebiet. Zunächst arbei-teten Dimitri und ich
gemeinsam auf einer Ze-che. Doch die wurde bald geschlossen. Wir
suchten uns eine neue Zeche, doch auch diese wurde bald stillgelegt. So
kamen wir im ganzen Ruhrgebiet herum, und ich schickte mein gan-zes
Geld nach Hause zu meinen Eltern.

Nun stehe ich wieder ohne Arbeit da und habe keine Ahnung, wie es
weitergehen soll. Lang-sam gehe ich durch die Straßen. Plötzlich höre
ich hinter mir ein klickendes Geräusch, dann fällt ein Schuss! Meine
Beine sacken unter mir weg, ich falle hin. Blut sickert durch meine
Jeans. Ich blicke mich um. Träume ich? Über mich beugt sich mit leicht
lächelndem Gesicht der Schmied, vor dem Dimitri und ich davonge-laufen
sind. Bevor ich das Bewusstsein verliere, höre ich ihn sagen: „Wenn ihr
beide nicht da-vongelaufen wärt, könntet ihr noch leben, wei-terleben.
Aber ihr musstet ja vor mir fliehen!“
Eine Frau fand mich und rief den Notarzt. Ich habe zwar viel Blut verloren, aber zum Glück überlebt.

Auf der Straße vor dem Krankenhaus scheint die Sonne. Ich lebe.
Morgen finde ich eine neue Arbeit. Ich hatte Glück und werde auch
wieder welches haben!

Jan Malescha ( 19 Jahre )

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