8. Oktober - Narges Shafeghati - Ein aktuelles und lebendiges Genre (Kinder und Jugendliche melden sich zu Wort am 8. Oktober)

Ein aktuelles und lebendiges Genre

Wenn wir nach unserer Kindheit die Märchen, die Kindergeschichten und die Gute-Nacht-Erzählungen, die Mama mal eben frei erfunden hat, hinter uns lassen und die Literatur uns immer weniger direkt betrifft, da uns die Zeit zum Lesen fehlt und das Interesse und der nötige Biss, uns durch Schul-lektüren und Analysen durchzuarbeiten, dann ha-ben wir damals nicht richtig zugehört, nicht genau gelesen oder uns einfach nicht genug für diese viel-fältige und wahrscheinlich sonderbarste Gattung geöffnet.
Das Wesen dieser Art von Erzählung hat seinen Ursprung in der Fantasie unserer Vorfahren. Diese Fantasie entspringt aus dem Glück und dem Leid, dem Traum in der Wirklichkeit, der Hoffnung im Elend, in dem sie jeden Tag gelebt haben. Wenn auch nur aus Not Erzählungen entstanden, weil man nicht gewusst hat, wie man das Kind zum Schlafen kriegt, ist es doch nicht nur damals, son-dern gleichsam für heute aktuell und keineswegs gleichwertig ersetzbar oder gar wegzudenken. Auch die heutige, fortgeschrittene Welt kann das Mär-chen niemals als altmodisch und überflüssig ver-bannen. In der Literatur schon gar nicht, aber auch im Alltag eines jungen Mädchens kann nichts die Prinzessin ersetzen. Und für einen Spielzeugherstel-ler ist die Prinzessin eine Existenzgrundlage, auch wenn es in der Realität kaum mehr echte Prinzessinnen gibt. Zwar ist die Tatsache, dass die gute Protagonistin im Märchen eine Prinzessin ist, ei-gentlich völlig nebensächlich, wenn man den Sinn erfassen möchte, doch kann man wohl kaum leug-nen, dass sich nahezu jede Frau gern einmal in ih-rem Leben als eine richtige Prinzessin gefühlt hat und gerne ‚meine kleine Prinzessin’ genannt werden würde bzw. wird. Und das entspringt nicht der Vor-stellung einer verwöhnten, zickigen Herrscherin oder Königstochter, sondern eher der eines liebreizenden Engels. Man hat noch Hoffnung auf die Reinheit und das gute Wesen des Menschen und damit für sich selbst.
Auch wenn das Märchen damals, als es entstand, eher im Dienste stand und nicht selten als Mittel zum Zweck gebraucht wurde, so unterscheidet es sich doch wesentlich von der Fabel und ihrer Erzie-hungshilfe mit Moralvorschrift und Belehrung, mit Warnen und Strafen oder dem Eintrichtern von Tu-genden. Die Fabel hat, obwohl sie, wie auch das Märchen, auf der ganzen Welt und in jedem Kultur-kreis ihre Tradition und ihren Platz hat, ihren Realitätsbezug nie verloren. Sie bleibt stets auf dem Boden der Tatsachen und der Wirklichkeit, während das Märchen gerade das Gegenteil predigt: Liebe, liebe das Leben, kämpfe, kämpfe um die Liebe, le-be, lebe mit Leidenschaft! Sei und sei gut und sei für die Guten und stehe für das Gute! Wenn sich das nicht gut anhört! Man denkt an Frieden, Freude, nicht Eierkuchen, sondern an Liebe. Nicht zu viel Aufklärung, nicht zu sehr Hippie. Die perfekte Dosis von Gebot und Lehre, Traum und Hoffnung.
Gott segne alle Mitwirkenden von den Erzählern bis zu den Sammlern der Märchen, von den Aufschreibern bis hin zu den Erfindern des Buchdrucks, die die unglaubliche Vielfalt und Farbenfröhlichkeit der Märchen weltweit bekannt gemacht haben. Es gibt sogar einen Tag des Märchens und des Erzählens, eine Europäische Märchengesellschaft und weiß der Himmel was sonst noch alles.
Und es ist nicht etwa die Mythologie, die einen solchen Status genießt, sondern gerade das, was die kleinen Leute erzählen, in den unscheinbaren Kin-dermärchen, in denen mehr Wahrheit und Wert steckt als in so manchen großen Literaturwerken.
Es bleibt eben immer ein aktuelles und lebendiges Genre. Es ist die wahrscheinlich erste Begegnung und Berührung eines jungen Menschen mit einer Textart und somit auch für ihn das Tor zur Litera-tur, die Grundlage für das gesunde Menschenverständnis, ein Baustein des Urvertrauens und ein wichtiges Fundament für die zwischenmenschlichen Beziehungen, das Verhalten, Denken und Fühlen, die gesamte Entwicklung. Eines resultiert aus dem anderen, und keiner kann verleugnen oder behaupten, Märchen seien nicht (mehr) zu gebrauchen. Vielleicht ist es möglich, dass das eine oder andere altert, aber trotzdem haben sie eine gewisse Unsterblichkeit, denn ihr Wesen, ihr Inhalt, stirbt nie.
Die Märchen haben es geschafft, durch das Tor der Moderne zu kommen, und sind nicht gestorben. Es heißt ja auch immer: „(Und) wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“.

Narges Shafeghati ( 17 Jahre )

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