Martina Holdorf rezensiert Hildegard Kohnens 'Liebesperlen und Lakritze
Hildegard Kohnen: Liebesperlen und Lakritze Eine Kindheit zwischen
Stadt und Land, Krieg und Frieden
Vechta: Geest-Verlag 20102. 208 Seiten. ISBN 978-3-86685-241-9.
Von der ersten Seite des Buches an mag man nicht mehr aufhören, der Autorin zuzuhören beziehungsweise im Buch weiterzulesen. Schnörkellos erzählt Hildegard Kohnen die Familiengeschichte von Katharina, Lisa und ihrer Mutter im „Kriegsdeutschland“ 1942 bis 1945. Nach dem Tod des (Stief)Vaters/Ehemannes durch einen Luftminenangriff ruft der Großvater die Seinen (Tochter und Enkeltöchter) von Duisburg zurück nach Altrich in die Eifel. Damit beginnt die Kindheitsgeschichte der siebenjährigen Katharina. Was sie früher nur von den Ferienbesuchen her kannte, soll nun ihre neue Heimat werden. Aufgeweckt wie sie ist, sträubt sie sich innerlich (und auch verbal), und nur langsam gelingt es ihr – auch durch die Menschen um sie herum –, das Leben im Dorf Altrich endlich zu akzeptieren und zu lieben.
Der Erzählung kommt ohne jegliche „action“ aus – und das macht die erzählte Ge¬schichte umso wertvoller. Es sind die leisen Töne und der wunderbare Erzählstil der Autorin, die das Buch so fesselnd machen. Die Geschichten aus dem Alltag sind banal – so oder so ähnlich haben sicher Tausende von Kindern die Jugendjahre während der Kriegszeit erlebt –, die zwischenmenschlichen Beziehungen und deren erkennbarer Wert hingegen sind zeitlos. Katharina, anders als ihre „brave“ ältere Schwester Lisa, sprüht vor Energie und Neugier. Wichtige Bezugspersonen (außer der ruhigen gedul¬digen Mutter) werden der Großvater, der jeden Streich im voraus erkennt und mit Altersweisheit richtig einzuschätzen weiß, der polnische Zwangsarbeiter Jan (eine Art Bruderersatz für Katharina) und die vielen Verwandten, die sich im Verlauf der Zeit auf dem Hof zusammenfinden. Auch die bettlägerige Großmutter, die ein Jahr später stirbt, als sie die Nachricht vom Tod ihres ältesten Sohnes erhält, prägt das sensible Kind. Hinzu gesellen sich die Kinder aus der Nachbarschaft, im besonderen Karl, genannt Karel, von dem Katharina die Geheimnisse des Moselfränkischen erlernt.
Das Kriegsgeschehen an sich bleibt relativ „außen vor“, der Leser erfährt nur am Rande von den Gräueln außerhalb des beschaulichen Dorfes Altrich (heute an der A 48 nach Trier gelegen und längst kein „Kuhdorf“ mehr). Erst als die Amerikaner als Besetzer einrücken, wird die Kriegssituation (Angst, Hunger, Nächte im Keller) greifbarer.
Hildegard Kohnen – alias Katharina – ist 65 Jahre nach Kriegsende mit ihrer auto¬biografischen Erzählung ein berührendes Werk gelungen. Anlass war der Tod ihrer Schwester, mit der sie jedes Jahr am 2. Juni telefonierte. Sprachlich virtuos lässt die Autorin, die bereits mehrere Literaturpreise erhalten hat, den Leser jede Nuance mitfühlen und miterleben. Durchaus vorstellbar, dass daraus auch ein guter Film gelingen könnte – wenn auch im modernen multimedialen Zeitalter „action-lose“ Geschichten vergessen scheinen.
Martina Holdorf M. A.
Lykershausen