Leseauszug aus 'Brücken bauten sich auf'

Zur Einstimmung in das literarische Schreiben und das Erfassen der Situation der Opfer des Nationalsozialismus versetzten sich die mitwirkenden SchülerInnen des Projekts 'Brücken bauten sich auf' in die Situation von jugendlichen Zwangsarbeiterinnen, die sich auf einem Transport nach Bad Zwischenahn befanden. Aus diesem Ansatz heraus ein literarischer Beitrag:

Yannik Schloss
Es ist Nacht

Wir sind eingehüllt in ein tiefes Schwarz, umgeben von einer unbekannten Landschaft, die ich nie zuvor sah. Durch einen kleinen Schlitz in der Holzwand erahne ich die vielen Felder, auf denen sich früh morgens langsam der Nebel bildet. Ich setze mich wieder, lege mich zu meiner kleinen Schwester, um mich zu ihr in die dünne Stoffdecke zu wickeln, die uns die Fremden gaben, denn mir ist kalt. So kalt.
Von da aus sehe ich in die vielen panischen, von qualvollem Schmerz verzogenen Gesichter der Frauen und Männer, die wohl das gleiche ungewisse Schicksal mit mir teilen werden. Viele Eltern versuchen ihre Kinder zu beruhigen, die vor lauter Angst schreien. Andere sitzen einfach nur verzweifelt und in ihren Gedanken verloren auf dem harten, knorrigen Holzboden. Mein Körper schmerzt, da wir seit Tagen darauf verharren müssen. Die ganze Nacht schon versuche ich, meine Augen zu schließen, um zu schlafen, der Angst und der Verzweiflung auch nur einen Moment davonzurennen. Doch die unruhigen Menschen, dicht aneinander gedrängt, das Ungewisse, das mit jeder Sekunde schnel¬ler auf uns zukommt, der Schmerz der Erinnerung an meine Mama, an meine Familie, das alles hält mich wach und lässt mich vor lauter Unruhe zittern. Mit jedem weiteren Angstschrei der Kinder, der die Schlafenden aus ihrem schwachen Schlaf reißt, mit jeder weiteren krächzenden Erschütterung des Waggons schleicht sich auch bei mir allmählich die Furcht ein – Sorge um meine Schwester und das Gefühl, unfreiwillig geradewegs in das Unbekannte zu steuern.
Die Fremden holten uns in der Frühe und ließen uns kein Chance, uns von unserer Familie zu verabschieden. Die bewaffneten Fremden umstellten mein Elternhaus und befahlen mir und meiner Schwester, uns anzuziehen. Sie nahmen meinen Eltern jede Mög-lichkeit einzugreifen, denn als Papa versuchte, einen der Männer zu Boden zu reißen, bedrohte ein Zweiter ihn sogleich mit gezückter Waffe. Gewaltsam schleppten sie uns zu ihrem Wagen. Mama schrie vor Verzweiflung. Doch sie war machtlos.
Der Waggon ist überfüllt und dreckig und stinkt nach Tier. Wir kauern in einem Tiertransporter, verkleidet mit sperrigen Holzstreben und auf dem Boden liegt vereinzelt verschmutztes, altes Heu. Bei schneller Fahrt pfeift der Wind durch die schmalen Schlitze an den schlecht verarbeiteten Stellen des Waggons.
Es ist kalt. Eiskalt. Unser Gefängnis wurde anfangs noch von einem kleinen schmalen Kohleofen am Rand des Waggons beheizt, doch nach drei Tagen Fahrt stellten sie es ein.
Manchmal höre ich, wenn wir anhalten, Stimmen hinter der schweren Tür. Eine schwangere Frau sagte mir gestern, die uniformierten Männer seien deutsche Soldaten, die uns nach Deutschland bringen würden. Sie hätte Angst davor.
Meine kleine Schwester liegt dicht neben mir auf dem Holzboden. Ich umklammere ihren kalten Kopf. Sie weiß nicht, was um sie herum passiert. Dauernd fragt sie, wo Mama ist und warum Papa nicht bei ihr sei. Ich versuche, sie zu beruhigen, doch sie vermisst ihre ge¬wohnte Umgebung, aus der sie so brutal gerissen wurde, und ich weiß langsam nicht mehr, was ich ihr noch antworten soll.
Wenn ich wieder mal kurz davor stehe, in Tränen auszubrechen, weil ich das ganze Leid in diesem Waggon sehe, in die vielen sorgenvollen Minen der Menschen blicke, versuche ich stark zu bleiben, denn ich muss. Ich muss meiner kleinen Schwester gerade jetzt so viel Halt wie möglich geben. Ich bin das Einzige, was sie jetzt noch hat.

Es wird Morgen. Und der nächste Tag des Ungewissen beginnt.