Nina Dierks - Irgendwann wurde ich Lehrerin (aus 'Brücken bauten sich auf')

Hördatei: 

Mareike (Nina Dierks)
Irgendwann wurde ich Lehrerin, um christliche Werte zu vermitteln

(aus: Brücken bauten sich auf)

Es ist jetzt 20 Jahre her, dass die Gestapo mich in ihr Büro eingeladen hat. 20 Jahre, in denen ich immer wieder überlegt habe, ob ich es hätte verhindern können, was damals geschehen ist. Vielleicht hätte es ja einen Weg gegeben, die anderen zu retten. Aber eigentlich glaube ich das nicht wirklich. Die Nazis hatten ihre Entscheidung schon getroffen, bevor ich das Gebäude überhaupt betreten hatte. Sie wussten genau, was sie taten. Ich hatte eigentlich nicht wirklich eine Einflussmöglichkeit. Das haben sie mich nur glauben lassen, damit ich mich danach verantwortlich fühlen würde und damit sie mir ihre grenzenlose Macht und Stärke präsentieren konnten. Oder vielleicht auch nur, weil es ihnen Spaß machte, andere zu quälen.
Damals hatten sie mich vor die Wahl gestellt: Entwe-der ich gebe zu, dass ich eine Scheinehe mit Max führe und er in Wahrheit homosexuell ist, oder sie depor¬tieren meine Eltern, die in der Partei in Misskredit geraten waren, da man ihnen jüdische Vorfahren nachsagte. Außerdem drohten sie mir an, dass ich nicht weiterstudieren dürfe. Zu der Zeit war ich gerade mitten in meinem Medizinstudium.
Ich ahnte, welche Konsequenzen es für Max haben würde, sollte ich ihn verraten, aber mit dem Gedanken, meine Eltern zu schützen, entschied ich mich schweren Herzens dafür, gegen ihn auszusagen. Damals hatte ich wirklich noch geglaubt, die Nazis würden ihr Wort halten und mich und meine Eltern in Ruhe lassen. Dabei hätte ich es besser wissen müssen.
Natürlich wurden meine Eltern trotzdem deportiert und mit meinem Studium war es auch vorbei. Plötzlich schien mein ganzes Leben, wie ich es vorher gekannt hatte, vorbei zu sein. Mit jüdischen Wurzeln bekam ich natürlich keinen Beruf und die Leute mieden mich, auch weil sich das mit der Scheinehe herumgesprochen hatte. Max, mein einziger Verbündeter, war von einem Tag auf den anderen spurlos verschwunden. Ich wusste, dass mich eine Mitschuld traf, und das be¬lastete mich. Mein einziger Trost war die Religion. Als ich noch studierte und auch in der Zeit davor, war ich nie ein sonderlich gläubiger Mensch gewesen, aber in dieser Situation schien Gott mein einziger Verbündeter.
Dies war auch der Grund für mich, nach dem Krieg Theologie zu studieren und Lehrerin zu werden. Es schien mir das einzig Sinnvolle. Vielleicht hätte ich auch mein Medizinstudium fortführen können, aber meine Träume und Ziele hatten sich grundlegend verändert. Meine Hauptaufgabe als Lehrerin sehe ich darin, christliche Werte zu vermitteln und den Kindern bei¬zubringen, dass alle Geschöpfe Gottes gleich sind. Niemand ist mehr wert als ein anderer, niemand weniger. Und jedem steht es frei, seine Meinung offen zu äußern. Ich liebe meinen Beruf und er ist der Mittelpunkt meines Lebens. Ich bin jeden Tag dankbar dafür, dass ich noch am Leben bin, trotz des vielen Unglücks damals. Viele von meinen damaligen Freunden hatten dieses Glück nicht.
Vor ein paar Jahren habe ich Max besucht. Er wohnt in einer psychiatrischen Klinik. Ich habe erfahren, dass er damals in ein Konzentrationslager gebracht wurde. Er hat nicht über die Dinge geredet, die ihm dort widerfahren sind, aber es muss schlimm gewesen sein. Seit¬dem ist er nicht mehr in der Lage, eigenständig zu leben. Er leidet unter schweren Angstzuständen und auch sonst scheint er nicht ganz bei sich zu sein. Ich war mir nicht einmal sicher, ob er mich wirklich wiedererkannt hat.
Seitdem habe ich ihn noch ein paar Mal besucht. Schließlich waren wir einmal so etwas wie ein Ehepaar, wenn auch kein echtes, und ich fühle mich immer noch irgendwie verantwortlich für das, was ihm zugestoßen ist. Er freut sich, wenn er mich sieht, und wir reden über das Wetter und das Fernsehprogramm. Über Din¬ge von damals darf man mit ihm nicht sprechen.
Es macht mich sehr traurig zu sehen, was aus ihm ge-worden ist. Er ist eines der vielen Beispiele für die Grausamkeit der Nazis und des von ihnen errichteten Systems.