22. Februar 2013 - aktueller Autor - Kalla Wefel
Kalla Wefel
Neben seinem Germanistik‐ und Sportstudium war Kalla Wefel in den 70er und 80er Jahren in professio-nellen Hamburger Rockgruppen tätig, tourte durch die halbe Welt und war an mehr als 30 LP-Produktionen als Sänger, Musiker, Texter und Komponist beteiligt.
Nach journalistischen Tätigkeiten unter anderem für die Zeitschrift Tempo sowie als Schulbuchautor für den Deutschunterricht (Cornelsen Verlag) startete er 1989 seine Karriere als Kabarettist und Autor und tourt seither mit seinen Programmen durch die deutschsprachigen Länder.
1999 erhielt er den Kleinkunstpreis ‚Satirelöwe’ in der Sparte ‚Solokabarett’. 2005 erschien die Doppel‐CD Die Erschöpfungsgeschichte.
Seit 2002 wohnt der gebürtige Osnabrücker nach 30 Jahren wieder in seiner Heimatstadt und veranstaltet dort seit 2006 im Kulturzentrum ‚Lagerhalle’ den Hei-matabend, auf dem er sich mit Gästen über stadtspezifische Themen unterhält. 2011 erschien zudem im Geest‐Verlag eine erweiterte Neuauflage von ‚Sind Sie frei?’.
Im Geest-Verlag erschienen:
Ausschnitt aus Kalla Wefel: Sind Sie frei
Während wir in der viel zu kleinen und muffigen Künstlergarderobe schwitzen, töten Gerhard Wendland und Heidi Brühl mit ihrer schier unerträglich grandiosen deutschen Fassung von There’s no Business like Showbusiness den Nerv des Publikums.
Unsere zweite ›Zugabe‹ wird vom Band eingespielt. Wir haben schlichtweg nicht genügend Songs in unserem Repertoire, und das bloße Wiederholen von Titeln scheint unter unserer Würde zu sein.
Es ist der dritte Tag, an dem wir – die Rockgruppe Clinch – im legendären Onkel Pö in Hamburg auftreten. Das Pö ist all die Tage bis auf den letzten Platz gefüllt. Kein Wunder also, dass sich die Führungsspitze unserer Plattenfirma und einige Journalisten täglich ein Stelldichein geben, und so wird auch heute die Diskussion unserer Marktchancen fast so lang wie die Spesenrechnung sein.
Einige dieser Vögel kommen nun in die Garderobe, umarmen und beglückwünschen uns – wie früher, als ich noch beim VfL Osnabrück eine Hoffnung als Links-außen war und diese Position zum Leidwesen meiner Eltern, Lehrer, Trainer und sonstigen ›Wir-meinen-es-doch-nur-gut-mit-dir‹-Tutoren außerhalb des Spielfelds mit weit größerem Elan ausfüllte.
»Ich hab’s geschafft!«, glaube ich und befinde mich im Vorgarten des Ruhms. Unser Titel Hallo, Vater! läuft täglich bundesweit in sämtlichen Radiosendern, und uns erwarten weitere Plattenproduktionen, und gerade sagt mir unser Produzent, dass wir in drei Monaten in einer deutschen Spezialausgabe des Musikladens auftreten sollen.
Um mich herum wird plötzlich alles ganz still. So schön ist es also, wenn man endlich einmal die Chance bekommt, abheben zu dürfen. Ich sehe meine Familie vor dem Fernseher sitzen, während sich der verlorene Sohn am Samstagabend zur besten Sendezeit vor Millionen von Zuschauern über sie lustig macht. Und ich denke an all die anderen in Osnabrück, der Stadt, aus der ich vor über zehn Jahren mit meiner großen Liebe Leonore nach Hamburg flüchtete.
»Hey! Na, wie geht’s?«
Der Klang ihrer Stimme – als hätte ich ihn gestern zum letzten Mal gehört. Leonore steht plötzlich vor mir. Acht Jahre haben wir uns nicht mehr gesehen, zumal wir die Arbeiterklasse mit Hilfe zweier gänzlich verschiedener K-Gruppen befreien wollten; wenn-gleich ich schon damals Groucho Marx’ Auffassung vertrat, niemals einem Verein beizutreten, der mich aufnehmen würde.
Wir umarmen uns und betrachten unsere Gesichter. Leo ist genauso hübsch wie früher.
»Dafür, dass du jetzt dreißig bist, haste dich aber auch recht ordentlich gehalten, Alter!«, gibt sie mir das Kompliment zurück.
Wir setzen uns an den Tresen. Mann, bin ich heute Abend wichtig! Stolz nehme ich die Huldigungen von Freunden, Bekannten und fremden Leuten entgegen. Schließlich haut mich sogar ein ehemaliges Mitglied vom ›Kommunistischen Bund‹ an, ob wir nicht Lust hätten, auf einer Wahlfete der Grünen zu spielen, natürlich zum Solidaritätspreis. Ich lehne dankend ab und weise ihn darauf hin, dass wir mit Clinch bislang kaum etwas verdient hätten.
»Aber mit eurer Politrockband habt ihr früher doch auch auf allen möglichen Solidaritätskonzerten gespielt«, hält er mir in vorwurfsvollem Ton entgegen.
»Sicher, aber zu Zeiten von Oktober waren wir privat zumindest durchs Bafög abgesichert. Warum holt ihr euch keine Gruppen, die eh schon bekannt und entsprechend reich sind? Denen sollte es doch ein Leichtes sein, auf Gagen zu verzichten, oder?«, wehre ich mich.
Es ist das erste Mal, dass ich es mir erlaube, ehrlich zuzugeben, mit Musik endlich Geld verdienen zu wollen, denn zum Fußballprofi ist es zu spät, und als Nachwuchsrocker ist meine Halbwertzeit bald abgelaufen – zumal in dieser schnelllebigen New-Wave-Zeit.
Das Chaos am Tresen lässt Leo und mir kaum eine Chance, etwas voneinander über die letzten Jahre zu erfahren. Da ich ohnehin genug angeben konnte, bestellen wir uns schließlich ein Taxi.
Mit der Sensibilität einer Kreissäge fährt der Taxi-chauffeur zwischen unsere angeregte Unterhaltung, indem er kryptische Zahlenfolgen ins Mikrofon brüllt, plötzlich beschleunigt und zu allem Überfluss den neuesten Wetterbericht samt Wasserstandsmeldun-gen durchgibt. In einem Weinlokal finden wir endlich Ruhe, obwohl ich als Kulturbanause nur Bier trinke.
Leo ist seit Jahren arbeitslose Lehrerin und macht nun eine Umschulung zur Steuerfachgehilfin. Sie ist verheiratet und hat eine zweijährige Tochter. Sie wolle sich von ihrem Mann trennen, sagt sie, da sie das Gefühl habe, in den letzten Jahren viel versäumt zu haben.
Auch ich versuche, ihr meine letzten chaotischen Jahre in Kurzform zu erzählen: »Also, das mit dem Abitur auf der Abendschule hat damals locker geklappt. Offiziell studiere ich immer noch Sport und Germanistik. Ganz am Anfang hab ich sogar einen Schein gemacht – ›Fußballgrundkurs eins‹. Ich müsste jetzt ungefähr im fünfzehnten Semester sein. Vor allem aber zahle ich nur zweiundvierzig Mark Krankenkasse im Monat.«
Wir lachen.
Es macht mir Spaß, mich als unbelehrbaren Flipper darzustellen. An den darauf folgenden Tagen treffen Leo und ich uns fast jeden Abend. Wir freuen uns, dass wir uns wieder gefunden haben.
Ich muss mit Clinch für einen Monat auf Tour. Die Ext-reme jagen sich: Kommen in Flensburg gerade mal zweihundert Leute zu unserem Konzert, so sind es in Wien über zweitausend. In Aalen lohnt es sich bei zwei vorverkauften Karten erst gar nicht, die Anlage aufzu¬bauen, einen Tag danach prügelt man sich in Traunstein um die Plätze. Unsere gerade erschienene Langspielplatte Gefühlsalarm ist ›LP der Woche‹ – und das ausgerechnet im Bayerischen Rundfunk! Ich frage mich, ob wir nicht doch etwas falsch gemacht haben ...
... und ich denke oft an Leo.
Bei unserem Konzert in Osnabrück erscheinen auch meine beiden gut betuchten Schwestern. Karin und ihr Mann Dieter schickten mich zwei Jahre zuvor als Verwalter ihrer Farm nach New Brunswick in Kanada. Damals löste sich Oktober auf, und ich verkaufte meinen kompletten Hausstand, um Bauer zu werden. Doch der nächste Nachbar, den ich hätte ärgern können, wohnte fast fünf kanadische Meilen entfernt, und so gründete ich nach meiner reumütigen Rückkehr bald darauf mit alten Freunden und neuen Bekannten in Hamburg Clinch.
Die Zeit schien günstig wie nie zuvor – angesichts der ›Neuen deutschen Welle‹ liefen die Plattenfirmen regelrecht Amok und kauften praktisch alles ein, was eine Gitarre halten konnte. So gab es auch für uns nicht viel zu befürchten, zumal ein Teil der Band über das entsprechende Styling und ein anderer sogar über das musikalische Know-how verfügte.
In Erwartung des Welterfolgs von Clinch lieh ich mir nach meinem Kanadaflop von Karin und Dieter Geld, um mittelfristig über die Runden zu kommen. Denn Tatsache ist, dass wir auf Tour trotz massiver Unterstützung der Plattenfirma nur wenig verdienen, da Roadies, Lastwagen und der technische Aufwand, der mittlerweile unter den Bands zu einem regelrechten Rüstungswettlauf geworden ist, fast alle Einnahmen verschlingen und GEMA- und Plattentantiemen frü¬hestens in einem Jahr zu erwarten sind.