Wilhelm Eisfeld - Es liegt an den Menschen (Jugendliche melden sich zu Wort)

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Es liegt an den Menschen

„Fremd und doch daheim“, so fühlt man sich, wenn man aus dem Ausland kommt und zehn Jahre lang in Deutschland, in Essen gelebt hat. Meine Großeltern sind nach dem Zweiten Weltkrieg wegen des Wiederaufbaus von Deutschland nach Kasachstan ausgewandert. Ich selbst wurde in Kasachstan geboren und habe dort die ersten neun Jahre meines Lebens gelebt. Dort ging ich mit meinen Freunden in eine ganz normale Schule. An ihr konnte ich drei Klassen beenden, danach bin ich mit meiner Familie nach Deutschland gezogen.
Meine Eltern haben mir zwar gesagt, dass wir bald nach Deutschland fliegen würden, und ich wusste auch wieso, doch ging mir das alles zu schnell. Einige unserer Verwandten blieben zurück, obwohl es ihnen schlechter ging als uns. Meine Eltern erkannten erst nach Jahren diese Probleme. Sie hatten beide seriöse Arbeitsstellen gehabt und hatten gut verdient. Das aber änderte sich, und es wurde immer schwerer für uns, bis meine Eltern entschieden, dass es so nicht mehr weitergehen konnte. Sie beschlossen, einen Neuanfang zu machen, und das bedeutete, dass auch ich dazu bereit sein musste. Einige Verwandte waren schon vor Jahren wieder nach Deutschland eingewandert, wo sie ein besseres Leben hatten und noch haben, und deshalb fassten meine Eltern diesen Entschluss. Es dauerte etwas, bis wir nach Deutschland kamen und ich zum ersten Mal auf eine deutsche Schule gehen konnte. Es war etwas Neues und Spannendes für mich, weil ich noch nie mit einem Flugzeug geflogen war und weil ich unbedingt wissen wollte, wie es in Deutschland ist. Die Neugier trieb mich voran, so dass ich mir keine Gedanken über meine zurückgebliebenen Freunde, über meine Schule und das alte Zuhause machte.
Am Anfang dachte ich wenig an das, was ich alles zurückgelassen hatte. Zu dieser Zeit war ich schon neun Jahre alt. Das aber änderte sich schlagartig, als mich meine Eltern an der neuen Schule anmeldeten. Sie hatten, ohne mich zu fragen, beschlossen, dass ich die dritte Klasse wiederholen sollte, weil ich keine Deutschkenntnisse hatte. Ich wusste erst nicht, was ich da sollte und warum ich unbedingt das Schuljahr wiederholen musste. Ich wäre lieber einfach in die vierte Klasse gegangen.
Mein erster Schultag war grauenhaft an der neuen Grundschule. Ich war neu, nervös und total unsicher, da ich kein Deutsch konnte bis auf „Ja“, „Nein“ und einige Ausdrücke, die ich schon verstand. Die Kinder haben gelacht und mich beschimpft, da ich nur ein Ausländer für sie war, der kein Deutsch konnte und ihrer Meinung nach vielleicht immer von Vater Staat leben würde. Ich konnte nichts dafür, und dennoch wurde es immer schlimmer. Es wurden mir grundlos, wahrscheinlich, weil ich nicht verstanden wurde, rassistische Beleidigungen an den Kopf geworfen wie „Du Scheißrusse, wegen dir ist Deutschland so!“, „Du dreckiger Ausländer, sieh zu, dass du Land gewinnst!“ und so weiter. Das Ganze blieb nicht nur bei Beleidigungen, sondern es kam auch zu einer Auseinandersetzung zwischen einem deutschen Jungen und mir, bei der er den Kürzeren zog. Danach hat er mich nie wieder angefasst oder angesprochen. Ich weiß, dass es für Gewalt keine Rechtfertigung gibt. Aber wenn man von allen Seiten umkreist ist und irgendjemand grundlos voller Hass vor dir steht, dann denkt man nicht mehr an so etwas, sondern man will nur noch weg und in Ruhe gelassen werden. So etwas wünscht man keinem Menschen. Niemand hat es verdient, nur weil er oder sie aus dem Ausland stammt!
Was ich fast ein Jahr lang ertragen habe, ist purer Rassismus gewesen. Dann bin ich mit meinen Eltern umgezogen, und ich habe die Schule gewechselt. Gesagt habe ich von alledem niemandem etwas, selbst meinen Eltern nicht. Ich konnte ja kein Deutsch. Man braucht Mut dazu, und den hatte ich damals nicht. Ich habe gedacht, wenn ich etwas sagen würde, würde es nicht nur für mich schlimmer kommen, sondern auch für meine Familie. Meine Eltern haben mich immer davor gewarnt, Unfug anzustellen, weil sie befürchteten, dass wir dann wahrscheinlich wieder nach Kasachstan zurückkehren müssten. Und dort hätten wir dann gar nichts mehr gehabt.
Nach dem Umzug habe ich die Kinder von der alten Schule eine Zeit lang nicht mehr gesehen. Darüber war und bin ich heute noch froh. Jetzt allerdings sehe ich diese Menschen manchmal wieder und denke mir, was ich für ein Glück hatte, von dort wegzukommen.
Auf der neuen Schule waren viele Schüler, die selbst aus verschiedenen Ländern kamen. Mit ihnen habe ich mich am Anfang teilweise verstanden. Ich war wieder neu, nervös und ängstlich an der neuen Grundschule. Meine eigentliche Muttersprache habe ich in der Zwischenzeit nicht weiterentwickeln können, weil ich keine richtigen Freunde hatte, mit denen ich in ihr sprechen konnte. Das aber hatte dazu geführt, dass ich die deutsche Sprache schon etwas besser konnte. Ich konnte sie jetzt besser als viele meiner Landsleute, mit denen ich zu tun hatte. Das wiederum bewirkte jedoch, dass sie mich jetzt  ausschlossen und mich auf die übelste Art und Weise diskriminierten. So habe ich unfreiwillig auch die „andere Art“ des Rassismus kennen gelernt. Sie war für mich noch viel schlimmer, denn ich konnte sie komplett nicht nachvollziehen.
Durch meine Deutschkenntnisse verbesserten sich meine schulischen Leistungen rasch, doch auch der Hass meiner Mitschüler stieg weiter, egal, ob deutsch oder nicht deutsch. Warum so etwas sein muss und was ich überhaupt „falsch“ gemacht habe, weiß ich nicht. Den Lehrern auf der neuen Grundschule konnte ich jedoch sagen, was war, was mir das Leben erschwerte, so dass sie immer etwas gegen den Rassismus unternehmen konnten, egal, von welcher Seite er kam. Sie waren nicht nur für mich da, sondern auch für andere.
In diesen zwei Jahren in Deutschland habe ich keine Freunde gehabt. Dadurch vermisste ich meine alten Freunde in meiner Heimat immer mehr. Ich hatte ja niemanden, mit dem ich spielen, reden oder so Spaß haben konnte. Ich vermisste mein altes Zuhause in Kasachstan. Allerdings war mir klar, dass ich meine Eltern jetzt nicht mehr davon überzeugen konnte, wieder nach Hause zurückzukehren. Sie hatten inzwischen anständige Arbeit gefunden und hatten sich schon zu gut eingelebt.
Nach diesem zweiten Schuljahr in Deutschland sind wir wieder umgezogen, so dass ich wieder auf eine neue Schule kam. Diesmal war es die fünfte Klasse einer Gesamtschule. Dort habe ich neue und viele sympathische Freunde gefunden. Einige waren neu auf der Schule, andere waren sitzen geblieben. Mit diesen Schülern bin ich meistens gut ausge-kommen, sei es auf Klassenfahrten oder auf Aus-flügen ins Schwimmbad und in den Zoo. Natürlich hatte jeder auch seine kleinen Probleme mit den anderen, weil es keine perfekte Welt gibt, in der jeder zufrieden sein kann. Für eine bessere Welt kann man jedoch etwas tun, nämlich den Rassismus aus dieser Welt zu schaffen, der verschiedene Menschen mit verschiedener Herkunft auseinander bringt!!!
Wenn mich heute jemand fragen würde, wo ich jetzt lieber leben würde, ob in Deutschland oder in Kasachstan, so würde ich ihm keine Antwort geben. Denn man muss klar im Kopf behalten, dass man überall auf Ablehnung, Auseinandersetzungen und Hass treffen kann. Es liegt an den Menschen, die manchmal etwas Neues sehen und es nicht gleich auf den ersten Moment verstehen. Dadurch entstehen viele negative Dinge, mit denen fast jeder Mensch im Leben konfrontiert wird. Heute kann ich nicht mehr sagen, wo ich mich am wohlsten fühle, außer bei meiner Freundin Katrin. Denn viele Dinge passieren in unserer Gesellschaft, die einfach nicht sein müssten.

Wilhelm Eisfeld (19 Jahre)