Dieter Wöhrle - Begegnung (Kurzgeschichte)
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Begegnung
Rathaus Steglitz. Die S-Bahn hatte heute nur wenige Minuten Verspätung und war, wie immer um diese Zeit, auch nicht überfüllt. Jannik stieg ein, suchte sich einen Sitzplatz am Fenster und hielt inne: Was für ein Traum von einer Frau! Sie saß allein, blickte ernst, wenngleich nicht unfreundlich oder gar abweisend ins Leere. Ihre Gesichtszüge waren markant, streng, wie aus der griechischen Antike entlehnt. Die schwarzen schulterlangen Haare umrahmten es, glänzten und gaben ihr, ebenso wie das dunkelblaue Kostüm, etwas Würdevolles. Die langen schlanken Beine hatte sie übereinander geschlagen.
Jannik nahm ihr gegenüber Platz, nun roch er auch ihr Parfüm. Leicht herb. Frisch. Anregend. Er gab sich Mühe, seine Faszination nicht nach außen dringen zu lassen, hielt er sie doch mindestens für die Chefsekretärin einer größeren Firma, von den Kollegen ebenso umschwärmt wie von den Vorgesetzten. Wer war der Glückliche, den sie abends umarmte, dem sie treu war, mit dem sie fremdging, von dem sie sich berühren ließ? Wie musste ein Mann beschaffen sein, damit sie ihm das Mannsein versüßte?
Bestimmt nicht wie er, so viel war klar. Bis gestern war er immerhin noch irgendeiner Arbeit nachgegangen, die ihm etwas, wenngleich hinten und vorn zu wenig Geld einbrachte. Privater Sicherheitsdienst. Hatte nachts auf Firmengeländen patrouilliert. Mies bezahlt. Zu mies, um seinen immer beträchtlicheren Alkoholkonsum zu finanzieren. Letzte Nacht war´s dann passiert. Ein Kontrolleur der Firma hatte seine Fahne gerochen, gemerkt, dass er undeutlich sprach und unsicher ging. Heute früh zum Chef, wo die Kündigung schon auf ihn wartete.
Nein, er würde wohl nie bei einer Frau dieser Klasse landen können. Jannik tröstete sich damit, dass sie von ihm nichts weiter wusste, nichts von seiner Sucht, nichts von seinem Kontostand. Und damit, dass sie ihn ohnehin kaum wahrzunehmen schien.
Als der Zug endlich den Bahnhof Rathaus Steglitz erreichte, hatten ihre Schmerzen etwas nachgelassen, sodass sie sich einigermaßen sicher sein konnte, nicht durch eine verkrampfte Körperhaltung aufzufallen. Yvonne schlug die Beine übereinander, merkte, wie sich auch ihre Gesichtszüge etwas entspannten. Der Mann, der eben eingestiegen war, war schon bemerkenswert gut gebaut. Mindestens 1,90 Meter groß, nur Muskeln und Sehnen. Lässig, jedoch gepflegt gekleidet.
Yvonne ließ sich nichts anmerken und vermied jeden Blickkontakt, als er ihr gegenüber Platz nahm. Gebräunter Teint. Stark trainierte Oberarme. Wespentaille. Sie fragte sich, womit er wohl seinen Tag verbrachte. Kriminalkommissar, ja, das könnte passen. Einer für die ganz gefährlichen Aufträge. Einer von den ganz Harten. Und dabei weicher Kern. Ihr wurde warm bei der Vorstellung, dass ein Kerl wie er auch zärtlich werden konnte. Wer wohl die Glückliche war, die sich in seinen Armen räkeln durfte? Wie musste eine Frau ausgestattet sein, damit er ihr treu blieb oder auch nur eine Nacht schenkte?
Bestimmt nicht wie sie, so viel war klar. Sie, deren Arthrose schon zu ihrem Lebensinhalt geworden war. Diese elenden Schmerzen, immer und überall. Schon morgens, unmittelbar nach dem Aufstehen, musste sie gleich mehrere Pillen schlucken, damit sie das Anziehen überhaupt aushielt. Auf Teilzeitarbeit war sie vor Kurzem gegangen, immerhin, obwohl sie sich nur schwer vorstellen konnte, dass sie es auch nur halbtags am Computer aushielt, fünfmal die Woche und das über mehrere Jahre. Sie, die auch das Ausgehen mit ihren Freundinnen am Wochenende gestrichen hatte, weil die Tabletten, die sie brauchte, um so einen Abend zu überstehen, sie viel zu müde und teilnahmslos machten. Die ihre Wohnung, sah man von der Arbeit ab, nur noch verließ, um einen Arzt oder eine Apotheke aufzusuchen.
Nie im Leben hätte sie auch nur den Hauch einer Chance bei so einem Champion, das wusste Yvonne. Tröstlich erschien es ihr lediglich, dass er von ihrem Leben nichts weiter wusste, nichts von ihren Schmerzen, ihrem Elend. Und dass er sie ohnehin kaum wahrzunehmen schien.
Diese Geschichte gibt es unter dem Titel „Schein und Sein“ auch als Gedicht, zu finden in meinem Band „Liebe in lieblosen Zeiten“ (Geest-Verlag 2013), S. 47.
Berlin, 24.9.2014
Dieter Wöhrle
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