Heute dritter Schreibtag in der Oberschule Emstek 7 die Geschichte von Natascha -ein Schreibauszug
Heute geht es in den dritten Schreibtag des Buchprojekts 'Und so geht es miteinander'. Die Schüler der Klassen R 10 der Oberschule in Emstek versuchten in ihrem Projekt, in die Rollen von Großeltern und Eltern zu schlüpfen und so die Jahre von nach dem Zeiten Weltkrieg bis heute zu durchlaufen. In einem Vorwort ist zu lesen:
"Ein Buch, das viel mit uns, mit unseren Eltern und Großeltern, mit unserer Geschichte zu tun hat. Wir wollten versuchen zu verstehen, wie haben unsere Großeltern und Eltern gelebt, welche Kommunikationsmittel haben sie benutzt, wie sind sie miteinander umgegangen.
Wir wollten das diesmal nicht abstrakt und wissenschaftlich nur lernen, sondern wir wollten das versuchen nachzuempfinden. Daher sind wir beim Schreiben in ihre Rollen geschlüpft, haben versucht, so zu denken, wie sie gedacht haben. Das heißt, wir haben zusammen versucht einen Roman zu schreiben, aus vielen kleinen Stücken."
Dazu gehört auch die Geschichte der russlanddeutschen Familien, fast ein Drittel der SchülerInnen hat einen solchen Hintergrund. Hier schon einmal ein kleiner Ausschnitt aus dem Roman. Natascha erzählt, wie es ihr an einem Januarmorgen in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts geht:
Doch das Leben ist nicht nur in Emstek in diesen Nachkriegsjahren schwierig. Viele tausend Kilometer entfernt in den Weiten Russlands leben auch Familien, leben auch Jugendliche, deren Leben sich in wenigen Jahren mit dem der Jugendlichen in Emstek vereinen wird. Bisher wissen die einen noch nicht einmal, dass die anderen existieren. Internet oder iPhone sind noch keine Größen, ja selbst ein Telefongespräch wäre zwischen den Orten kaum möglich. Und keiner kommt auf die Idee, dass dies in nur wenigen Jahrzehnten eine Selbstverständlichkeit sein wird.
Das Erste, was ich, Ida, höre, ist das Türenknallen meines Vaters, als er das Haus verlässt. Langsam setze ich mich auf und lege meine dünne Decke zur Seite. Augenblicklich läuft mir ein kalter Schauer über den ganzen Körper. Durch die undichte Wand zieht die eisige Winterluft zu uns herein. Verschlafen stehe ich auf und gehe zum Bett meiner jüngeren Schwestern.
„Olga, Luda, aufstehen! Nastja ist sicher auch schon wach und hilft, wir sind spät dran.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, gehe ich zu dem morschen Kleiderschrank hinüber und suche mir meine Kleider für diesen eisigen Wintertag raus. Ohne so richtig darauf zu achten, greife ich zum grünen Kleid meiner älteren Schwester, meinem grauen Pullover und der braunen Wollstrumpfhose.
Zwar werde ich nur langsam wach, jedoch weiß ich, dass ich mich beeilen muss, da Vater ansonsten zornig wird. Also dränge ich meine Geschwister mit starker Stimme dazu, sich zu beeilen. Während ich meine Haare zu einem Zopf zusammenbinde, gehe ich hinüber zu dem kleinen Fenster und sehe, dass Kostja und Nastja schon fleißig auf unserem Hof am Schneeschieben sind. Eilig gehe ich die knatschige Treppe hinunter, hole mir meine Holzschuhe vom Kamin und renne hinaus auf den Hof. Für Frühstück ist wohl vorerst keine Zeit, zuerst müssen das Stroh im Tierstall gewechselt und die Tiere gefüttert werden. Mit Glück kann ich vielleicht auf dem Schulweg mein Brot essen.
Im Vorbeigehen grüße ich meine beiden älteren Geschwister mit einem freundlichen „Guten Morgen“, bekomme jedoch nur ein beiläufiges Nicken als Antwort. Also nehme ich mir ohne ein weiteres Wort die Mistgabel, die an der Schuppenwand lehnt, und stapfe durch den Schnee in den Stall.
Schon als ich den Stall betrete, kommen mir der starke Tiergeruch und ein Wärmeschwall entgegen. Es ist zwar noch lange nicht warm, aber trotzdem schon um einiges angenehmer. Ich muss mich trotzdem beeilen, es ist bestimmt schon 5.30 Uhr, also habe ich grade einmal eine Stunde, um die Arbeit im Stall zu erledigen, bis unser Nachbar kommt, um uns zur Schule abzuholen. Glücklicherweise muss er heute wieder das Stroh zum Gemeinderathaus bringen und lässt uns auf der Ladefläche seiner Kutsche mitfahren. Aber dieses Glück haben wir nicht jeden Tag. Normalerweise müssen wir alle zu Fuß bis in die Mitte des Dorfes laufen und das während der eiskalte Schnee immer tiefer in unsere Holzschuhe eindringt.
Routiniert erledige ich relativ zügig meine Aufgaben im Stall und habe anschließend tatsächlich noch genug Zeit, mir ein Schwarzbrot mit Zucker zu machen, mir meine Hände im kühlen Wasserbad zu waschen, meine wenigen Schulsachen zusammenzusuchen und sie in meinem Ranzen zu verstauen. Als ich essend bei dem Karren meines Nachbarn ankomme, sitzt Olga bereits drauf. Luda ist dabei, auf den Karren hinaufzuklettern. Hinter mir höre ich die eiligen, stapfenden Schritte meines Zwillingsbruders Dima, der noch eben unseren Wachhund Bandi gefüttert hat.
Während unserer holprigen Fahrt auf den alten Schotterwegen habe ich das erste Mal nach den Feiertagen die Möglichkeit, mir die eingefrorene und zugeschneite Landschaft anzusehen. Sogar die großen Spinnennetze zwischen den leeren Zweigen sind eingefroren und wirken beinahe wie kristallisiert. Auch die Luft fängt an zu gefrieren, sodass man nicht weit sehen kann. Alles wirkt auf mich ein wenig gespenstisch in all diesem Weiß.
Auf halbem Weg durchfährt mich ein Schreck, als die Kutsche zum Stehen kommt und zur rechten Seite wegkippt. „Was ist passiert?“, schreien Luda und Olga panisch. Doch diese Frage beantwortet sich für mich schon von allein, als ich das kaputtgebrochene Rad neben dem Karren liegen sehe. Doch ich habe keine Lust, viel zu sagen, also deute ich lediglich auf das Rad und steige vom Karren ab. „Können wir Ihnen helfen, Ihre Kutsche zu reparieren oder das Stroh zu tragen, Herr Maier?“, fragt Dima unseren Nachbarn, ohne länger erschrocken zu sein.
„Das ist sehr freundlich, aber seht ihr mal lieber zu, dass ihr zeitig in der Schule seid, Kinder.“
Schweigend machen wir uns also alle auf den Weg zur Schule, während uns die Schneeflocken ins Gesicht fliegen. Jeder Schritt fällt mir immer schwerer und meine Laune wird in dieser bitteren Kälte immer schlechter. Aber trotzdem müssen wir ein zügiges Tempo beibehalten. Ich will mir gar nicht ausmalen, was geschehen würde, wenn wir zu spät zur Schule kämen.
An der Schule in Omsk, circa acht Kilometer von unserem Zuhause entfernt, stellen wir uns zuerst unter ein kleines Vordach, um den Schnee von unseren Schuhen zu entfernen. Dort treffe ich die ersten Freundinnen und Freunde aus meiner Klasse. Mit ihnen zusammen gehe ich in den Sammelraum unserer Schule, in dem wir ruhig und nach Klassen sowie Geschlecht geordnet auf unseren Schulleiter warten. Wirklich gut ist meine Laune immer noch nicht, aber wie sollte sie denn auch, bei solchen Temperaturen und einer solchen Strenge?
Als der Schulleiter den Raum betritt, beginnen wir alle gemeinsam den Morgengruß aufzusagen. Anschließend werden wir klassenweise in unsere Räume geschickt, von der jüngsten bis zur ältesten Klasse. Also dasselbe wie jeden Tag.
Wenige Monate später erfolgt der Abschluss meiner Schulzeit
Langsam sehe ich den Schulleiter auf mich zukommen. Er war zwar schon bei anderen Schülern aus meiner Klasse und die meisten von ihnen tragen ein Lächeln auf den Lippen, doch jetzt ist es mein Entlassungszeugnis, das er in den Händen hält. Jetzt bloß lächeln und nicht nervös wirken! Oh je, jetzt überreicht er mir das Zeugnis. Schnell bedanken, das Zeugnis entgegennehmen und schauen, wie ich abgeschnitten habe.
Eigentlich bin ich ganz zufrieden, dafür, dass ich wenig Schlaf kriege und zu Hause viel arbeiten muss. Was ich mit diesen Noten und diesem Abschluss wohl später für Möglichkeiten haben werde?
Vielleicht werde ich es in einem anderen Land schaffen, meinen Traumberuf auszuüben und eine Familie zu gründen. Ich hoffe es. Ich erträume mir eine gemeinsame Zukunft mit Viktor. Letzte Woche habe ich sogar einen Liebesbrief von ihm bekommen:
Liebe Ida,
schon vom ersten Tag an, an dem ich dich sah, fand ich dich interessant.
Mit der Zeit habe ich mich immer mehr und mehr in dich verliebt.
Dein Lächeln, deine Ausstrahlung und einfach alles an dir verzaubert mich.
Ich würde am liebsten jede einzelne Sekunde mit dir verbringen und hoffe, dass du genauso empfindest.
Ich möchte dich bitten, heute Abend, wenn die Sonne untergegangen ist, zu dem Wald neben der Schule zu kommen.
In Liebe
Dein Viktor
Eventuell mag es naiv wirken, aber das sind meine tiefsten Wünsche. Jedoch habe ich nie mit Viktor über unsere Zukunft geredet, wir leben immer nur im Hier und Jetzt.