Weihnachtsferien - Renate Siltmann-Börger

Weihnachtsferien
Renate Siltmann-Börger

„Kommt gesund und munter nach den Ferien zurück!“, verabschiedete unser Klassenlehrer uns in die Weihnachtsferien 1956. Ob wir die Worte wohl alle richtig verstanden hatten?
Nachdenklich trottete ich zu meinem Fahrrad, schob es zunächst durch den knirschenden Schnee bis zur Hauptstraße, um dann durch die Schneespuren nach Hause zu fahren. Die Spuren waren eine aufmerksame Zitterpartie. Heute Vormittag hatten keine neuen Schneeflocken die leicht vereisten Spuren bedeckt, doch die ein Kilometer lange Konzentrationsübung war wohl für mich am letzten Schultag vor Weih-nachten zu viel. Die Gedanken schweiften ab, denn Weihnachten war doch eine spannende Begebenheit.
Einige Meter vor unserer Hofeinfahrt war es mit der Konzentration vorbei und ich rutschte aus einer Spur, die ein Pferdefuhrwerk zuvor geformt hatte. Als ich wieder auf den Füßen stand und das Fahrrad bereitgestellt hatte, sah ich meinen Mantel aufgeschlagen – die beiden unteren Knöpfe waren abgerissen. Oh Schreck, auch das noch, Mama hatte doch in den letzten Wochen schon so viel vorzubereiten gehabt für Weihnachten. Mein Fahrrad schob ich jetzt lieber nach Hause, bevor noch etwas passierte.
Merkwürdig, dass Mama so ruhig blieb, als ich ihr die Knöpfe und den Mantel zeigte. Mein leichtes Humpeln vom Fahrradsturz bemerkte sie gar nicht. Nach getaner Tagesarbeit nähte Mama abends ruck zuck die Knöpfe wieder an und ich konnte gut schlafen.
Fast eine Woche war es noch bis zum Weihnachtsfest. Doch langweilig wurden die Ferien nicht, denn ich hatte noch einige Bökerbriefe für Silvester zu schreiben. Und vor allem war es interessant, Mama beim Backen der letzten Plätzchen zuzusehen, zu helfen – wie zum Beispiel Spritzgebäck mit Schokolade bepinseln und von der Heidesandrolle gleichmäßige Scheiben abzuschneiden und natürlich ausgiebig zu probieren. Zwischendurch raus in den Schnee: Schlitten fahren, Schneeballschlacht mit Nachbarskindern und Schneemänner bauen. Und schon war der aufregende Tag gekommen – Heilig Abend.
Ein geheimnisvoller Tag. Mama lief emsig im Haus hin und her und war zwischenzeitlich auch für längere Zeit verschwunden. Fast schon war es etwas beängstigend ruhig – oder unruhig? Nach dem Mittagessen hielten meine Eltern, meine beiden Geschwister und ich Mittagsschlaf, weil wir am Heiligen Abend nicht zur gewohnten Zeit zur Nachtruhe kamen.
Mama weckte mich rechtzeitig, bevor sie die Schwei-ne fütterte, und ich durfte mir zu meinem Sonntags-kleid passende Wollstrümpfe aussuchen. Obwohl ich schon im dritten Schuljahr war, legte mir Mama sonst immer die Kleidungsstücke hin.
Meine Eltern und meine beiden zehn beziehungsweise zwölf Jahre älteren Geschwister huschten in den Stall und auf die Diele, um das Vieh zu versorgen. Die Sonntagskleidung zog ich mir sorgfältig an. Ein bisschen stolz war ich schon, dass ich das alleine durfte, betrachtete mich im großen Spiegel des Elternschlafzimmers von vorne, von hinten, von der einen Seite, von der anderen Seite, zupfte noch mal hier und da und noch einen letzten Blick in den Spiegel. Nun musste ich aber schnell noch erkunden, was das Christkind wohl machte. Die Tür zur Weihnachtsstube war abgeschlossen, der Schlüssel steckte nicht im Schloss. Wo war der wohl? Ein Blick durchs Schlüsselloch – nichts, nur dunkel. Ich erinnerte mich, im letzten Jahr war es genauso gewesen.
Aus Langeweile tanzte ich auf der Diele, fiel noch in den Heuhaufen und nervte meine Geschwister: „Wann fahren wir endlich zur Weihnachtskirche?“
Bald war es so weit, Onkel Willi aus Wehdel kam mit dem großen Pferdeschlitten bei uns vorgefahren, in dem schon meine Vettern Jürgen und Horst und meine Cousine Anneliese saßen. Warm angezogen und in Decken gehüllt, ging es los Richtung Badbergen. Die beiden Pferde stapften mühsam durch den Neuschnee, der nachmittags gefallen war, und die Kufen ließen breite Spuren hinter unserem Schlitten zurück.
In der Badberger ‚Bismarckklause‘, einer Schankwirt-schaft mit Gemischtwarenladen, wurden die Pferde im großen Innenhof ausgespannt. Wir wickelten uns aus den herrlich wärmenden Decken und eilten zur Kirche, die wundervoll mit einem ganz großen Tannenbaum mit echten Kerzen geschmückt war. „Oh, wie schön“, flüsterte ein Kind hinter mir in die erwar-tungsvolle Stille. Wahrhaftig, das Kerzenlicht, auch an den Lüstern, verzauberte die Weihnachtskirche in ein mystisches Ambiente.
Auf dem Rückweg liefen die Pferde schneller als auf dem Hinweg, wahrscheinlich freuten sie sich, nach Hause in den warmen Stall zu kommen. Während der Kirchzeit hatten sie nur eine Pferdedecke auf dem Rücken liegen und mussten an der frischen Luft verharren.
Beim Abendessen herrschte knisternde, geheimnisvolle Stimmung. Danach gingen mein Vater und meine Geschwister mit mir auf die Diele. Den Kühen und Rindern fegten wir das Heu an, die Misthäuflein wur-den im Kuhstall in die Rinne gezogen und das Stroh etwas aufgeschüttelt, damit die Kühe trocken liegen konnten. Was war das? Wie jedes Jahr klingelte wäh-rend unserer Tätigkeit eine Glocke.
„Oh, das Christkind war da“, jubelten meine Ge-schwister. Schnell hin und nachsehen, was es be-schert hatte! Mama hatte das Geschirr gespült und die Küche aufgeräumt, und wir gingen alle gemein-sam in die nun nicht mehr verschlossene Weihnachtsstube. Das Oberlicht vom Stubenfenster war geöffnet – dort hinaus flog immer das Christkind in Engelsgestalt. Die Kerzen am Tannenbaum beleuch-teten alle Weihnachtsgeschenke, wir sangen Weih-nachtslieder wie ‚Stille Nacht, heilige Nacht‘, ‚Oh du fröhliche‘, ‚Leise rieselt der Schnee‘, ‚Es ist ein Ros entsprungen‘. Nebenbei beäugelten wir die Gaben, die das Christkind liebevoll drapiert hatte.
An einer Türklinke erblickte ich ein dort hängendes neues Kleid und war sprachlos. Woher wusste das Christkind, dass mir die rote Farbe von dem Wollkleid mit weißen Knöpfen gefallen würde? „Darf ich das Kleid anziehen?“, fragte ich meine Mutter. „Aber nur einmal anprobieren, mehr nicht.“ Mama erwähnte, dass das neue Kleid vorerst nur sonntags und zu ganz besonderen Anlässen getragen werden durfte. Das Kleid sollte mir doch lange Freude bereiten können. Was auch der Fall war, denn der Rocksaum war ziemlich breit und aufs Verlängern ausgerichtet. Die anderen Geschenke waren im Augenblick nicht so wichtig, ich hätte doch viel lieber das Kleid anbehalten, zumal das Christkind dazu eine passende Strumpfhose unter den Tannenbaum gelegt hatte. Ich bettelte noch einmal, aber Mama wiederholte nur stoisch: „Nein, das neue Kleid ziehst du nur sonntags an!“
Der nächste Tag schon war ein Sonntag. Am ersten Weihnachtstag durfte ich das neue Kleid und die neue Strumpfhose zum Besuch bei Tante Martha anziehen.
Warum nur war ich Heiligabend wieder enttäuscht, dass ich das neue Kleid nicht anbehalten durfte – ich musste doch inzwischen wissen, dass ich neue Kleidung vorerst nur sonntags tragen durfte. Manchmal allerdings musste die neue Kleidung auch schon recht bald verändert werden. Sicherlich war ich dann unplanmäßig schnell gewachsen.
Dennoch war es wieder ein schönes Weihnachtsfest und wurde auch nach den Ferien in einem Aufsatz in der Schule über ‚Erlebnisse in den Ferien‘ erwähnt.