Das Sonett am Donnerstag - Ein Aufruf zum Schreiben
Von diesem Donnerstag an werden an dieser Stelle jeden Donnerstag ein oder einige Sonette veröffentlich werden. Sie werden vermutlich zunächst vor allem von Autoren des Geest-Verlages stammen, aber wir hoffen, dass wir bald auch von anderen Dichtern Texte, die man im engeren oder weiteren Sinne als Sonette auffassen kann, zugesandt bekommen. Dies soll aber kein Gedichtwettbewerb sein, die Gedichte werden nicht in irgendeiner Weise bewertet werden. Allerdings wird sich der Verlag das Recht zu einer Auswahl vorbehalten. Es können also auch Einsendungen ohne Begründung und ohne irgendwelche Rechtfertigungszwänge abgelehnt werden. Die Gedichte können bisher unveröffentlicht sein oder aus Veröffentlichungen der einsendenden Autoren stammen, soweit dies urheberrechtlich möglich ist. Kommentare und Diskussionsbeiträge zu den (auch den eigenen ) Gedichten sind ebenfalls willkommen und werden, wenn es sinnvoll erscheint, auch am selben Platz erscheinen.
Mit dieser Aktion werden mehrere Ziele verfolgt. Zunächst möchten wir uns selbst und den einsendenden Dichtern das Vergnügen bereiten, Beweismaterial zur Beantwortung jener schon ewig diskutierten Frage liefern oder sichten zu können, ob Sonette noch zeitgemäß sind. Und dann wünschen wir uns, möglichst viele Beispiele dafür zu finden, wie außerordentlich vielseitig die Sonettform heutzutage gehandhabt wird. Und schließlich hoffen wir, die aktiven und passiven Aktivitäten im Zusammenhang mit Lyrik - also Schreiben, Lesen und darüber Diskutieren - auch außerhalb des exklusiven Kreises der etablierten Produzenten, Veröffentllicher und Kritiker von Lyrik ein wenig zu fördern.
Als Robert Gernhardt 1978 seinen berühmt-berüchtigten Vierzehnzeiler "Materialien zur Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs" veröffentlichte, der mit der Zeile beginnt: "Sonette find ich sowas von beschissen", die am Schluss noch einmal fast wörtlich wiederholt wird, hat er etwas erreicht, wovon die meisten von uns Lyrikern nur träumen können: nämlich große Aufmerksamkeit weit über die oben erwähnten engen Grenzen des Zirkels der Spezialinteressenten hinaus. Traditionalistische Lyrikfreunde warfen ihm damals wütend die Schändung heiligen Kulturgutes vor, während "linke" Bilderstürmer, vom Deutschunterricht frustrierte Gymnasiasten und überforderte und ins falsche Studienfach verirrte Germanistikstudenten (von denen viele später Deutschlehrer wurden ) in seinem Text ein Fanal zum endgültigen Bruch mit den hergebrachten literarischen Formen sahen - eines von etlichen derartigen "Fanalen" übrigens seit über hundert Jahren ( z.B. seit DADA). Beide Gruppen - und Gernhardt wird sich darüber nicht wenig amüsiert haben - machten damals einen geradezu albernen Fehler, indem sie das fiktive "lyrische Ich" des Gedichts mit der Person des Autors gleichsetzten. Gernhardt selbst hat Sonette - wie auch andere traditionelle Formen, Versmaße und vor allem den Endreim - niemals "beschissen" gefunden, sondern sich sein Leben lang damit beschäftigt. So wurde denn auch sein vorgebliches Schmähgedicht keineswegs zum Totenglöcklein für die Sonettform.
Im Gegenteil, seitdem sind zahllose Sonette im engeren oder weiteren Sinne von mehr oder weniger bekannten Dichtern verfasst worden, epigonale und originelle, für den Tag geschriebene und zeitlos gültige, parodistische und solche, in denen die Sonettform als eine ideale Form für pointierte Gebrauchslyrik verwendet wird, kunstvoll ( mehr oder weniger mühsam ) gedrechselte und solche, in denen sich die Form und die Aussage auf organische Weise ergänzen, schlechte, mittelmäßige, gute und einige wenige großartige - das alles eigentlich wie schon immer seit dem Tod Petrarcas vor sechseinhalb Jahrhunderten.
Aber was ist eigentlich ein Sonett ? Besser gefragt, da wir keine Literaturwissenschaftler sind und es auch nicht sein wollen: Was sollen wir in unserer Donnerstagsaktion als Sonett anerkennen ? Seit der Renaissance haben sich formale Merkmale herausgebildet, die als typisch bzw. sogar unverzichtbar für den Formentypus "Sonett" gelten. Deren wichtigste sind (ungefähr seit Petrarca ) die Vierzehnzeiligkeit und vor allem die Zweiteilung des Gedichts in Oktett und Sextett (Aufgesang und Abgesang), die eigentlich immer, um wirklich ein Sonett zu ergeben, mit einer irgendwie gearteten inhaltlichen Veränderung im zweiten Teil, also dem Sextett, einhergehen sollte. Es gibt dann noch die britische Sonderform des Shakespeare-Sonetts, die aus drei Vierzeilern und einem abschließenden Zweizeiler besteht, der eine inhaltlich zusammenfassende, urteilende ("juridische"), kontrapunktische, kommentierende oder sonstwie das Gedicht abschließende Funktion hat. Hier ist im Grunde die Funktion des Sextetts aus dem italienischen Sonett auf zwei Schlusszeilen konzentriert.
Man kann also sagen: Sonette sind pointiert, also final aufgebaut. Ein perfekt im Schlegelschen Reimschema (ABBA-ABBA-CDE-CDE ) gebautes Gedicht, das diesen pointiert-finalen Duktus nicht hat, mag ein schönes Gedicht sein, aber ein Sonett im eigentlichen Sinne wäre es dann trotzdem nicht. Ein Vierzehnzeiler dagegen, der vom klassischen Reim- und Strophenschema des Sonetts abweicht und - zum Beispiel - keine fünfhebigen Jamben, sondern Trochäen in ungleicher Verslänge oder überhaupt kein eindeutiges Versmaß verwendet oder der nur am Gedichtende oder gar nicht gereimt ist, ja sogar ein Gedicht, das um ein weniges von der Zeilenzahl 14 abweicht, kann unter Umständen den Charakter eines Sonetts haben, wenn es eben diesen typischen finalen Aufbau aufweist, und wäre nach den heutigen Maßstäben als Sonett anzuerkennen. In dieser Hinsicht ist die Form des Sonetts außerordentlich variabel geworden. Ihr einen einengenden Zwangscharakter - wie in Gernhardts Schmähgedicht behauptet - zuzuschreiben, wäre nicht gerechtfertigt.
Die gleiche Variabilität und Offenheit gilt seit langem auch in inhaltlicher und thematischer Hinsicht. Sonette müssen schon seit Jahrhunderten nicht mehr unbedingt Liebes- bzw. Huldigungsgedichte an eine Geliebte sein, womöglich noch mit genauen Vorschriften dafür, in welcher Reihenfolge die einzelnen Körperregionen der Angebeteten beschrieben werden (wie seinerzeit in gewissen Ausartungen des Petrarkismus), sie müssen nicht ernst und feierlich sein, sie können sich auf alle möglichen Themen beziehen, können auch ironisch, witzig, parodistisch, können sogar Nonsensgedichte sein, sie können das sein, was man seit gut hundert Jahren "modern" nennt, müssen es aber nicht. Zumindest an unserem Donnerstagsplatz gibt es nicht einmal diesen Zwang.
Damit ist ungefähr umrissen, was wir hier mit "Sonett" meinen. Eine ganz andere Frage ist allerdings, wann ein Gedicht nicht nur ein formal als Sonett zu akzeptierendes, sondern auch ein gutes Gedicht ist. Wir hoffen, dass wir hier etliche auch in diesem letztlich entscheidenden Sinne "gute" Sonette präsentieren können. Allerdings werden wir uns nicht auf das Glatteis begeben, hier auch noch sagen oder auch nur andeuten zu wollen, woran man das in diesem Sinne "gute" Sonett erkennt. Aber wir sind uns sicher: Man erkennt es.
Jetzt aber noch ein kleiner Leckerbissen. Jeder Autor, der am Donnerstag sein Sonett veröffentlichen kann, der bekommt vom Verlag einen kleinen Lyrikband als Geschenk.
Einsendungen bitte an info@Geest-Verlag.de- mit dem Hinweis Sonett