Wendelin Mangold - Verwandlung (an den verstorbenen Schriftsstellerkollegen Heinrich Rahn)
VERWANDLUNG
Brief an meinen Schriftstellerkollegen Heinrich Rahn
Nach einer Folge von kurzen Träumen heute Nacht hatte ich gegen Morgen einen ungewöhnlichen Traum,
wohl unter dem starken Eindruck des am Vorabend Gelesenen: dein Roman „Aufzug Süd-Nord“. Und nämlich:
Ein älterer Herr, ein Heiler in weißem Krankenkittel, Gesicht und Hände altersgeknittert. Es saß hinter dicker
Glasscheibe wie früher üblich in einer sowjetischen Apotheke. Ich stand, wie mir schien, lange an nach einem
mir ausgegangenen Arzneimittel. Als ich an der Reihe war, erklärte ich ihm, dass ich schon drei Jahre dieses
Medikament einnähme. Dabei habe ich die Benennung vergessen und wollte ihm die restlichen Pillen zeigen,
kramte in der Tasche und fand stattdessen bloß schwarze Sonnenblumenkerne. Nach einer kurzen Zeit Wartens
kam er hinter dem Glas hervor mir entgegen, dabei verwandelte er sich buchstäblich vor meinen Augen in eine
bezaubernd schöne Frau, eine Mittdreißigerin in einem hellen, schwarz gesäumten Kostüm. Ein Hingucker
die Frau und ihr Kleid! Ich habe noch alles klar vor meinen Augen, obwohl der Tag schon in seine zweite
Hälfte geschritten ist. Seltsam und angenehm. Sie nahm mich in den Arm und sagte (russisch!): Вы мне нравитесь!
(Sie gefallen mir!) Sie begleitete mich darauf ein Stück Wegs und verschwand im Eingang zum Krankenhaus.
Lieber Heinrich, an diesem Traum bist bestimmt du schuld mit deinem neuen Roman!