Kattelmann, Birgit: Professor Regers Märchenland

Autor: 

Birgit Kattelmann
Professor Regers Märchenland
mit Grafiken von Ursula Fricke
Titelbild von der Autorin
Geest-Verlag 2006
ISBN 3-86685-000-X
396 S, 14 Euro

 

  “...Und die zweite Antwort, Knexen, ist diese: Man kann das Morgenlicht nicht herbeizwingen, indem man die Schatten totschlägt.“

Caroline Reger ist fast dreizehn Jahre alt und eine Weltenwanderin. Mit den Erwachsenen in ihrer Umgebung hat sie ihre liebe Not. Nicht nur, dass diese die Welten nicht wahrnehmen können, in die Caro reist - sie wird zudem ständig ermahnt, in der Realität zu bleiben.

Als ihr Freund Knexen, ein Zwerg aus dem Reich Raraku, sich hilfesuchend an sie wendet, weil seine Familie zu Unrecht eines Diebstahls bezichtigt wird, spitzt sich die Lage zu. Caro ist die einzige, die helfen kann. Gemeinsam reisen die beiden, das Menschenmädchen und der junge Zwerg, der Spur des Diebes nach. Sie kommen einer furchtbaren Bedrohung auf die Spur ...

Fürwahr, Birgit Kattelmann gelingt es nach dem 'Reich des weißen Bären' erneut, die Grenze zwischen Jugend- und Erwachsenenbuch aufzulösen. Kein Jugendlicher und kein Erwachsener wird sich nicht in die Fantasiewelt der Erzählerin entführen lassen und irgendwann merken, dass es keien Fantasiewelt ist, sondern unsere Welt, mit der wir uns auseinandersetzen müssen, die wir unseren Kindern zumuten, denn wir sind für sie verantwortlich. Auch sprachlich ist dieses Buch wieder ein genuss, liebvoll von Ursula Fricke illustriert.
(B. Dhünn)

„...Knexen zieht sich wie ein roter Faden durch das Geschehen. Er ist so liebenswert, wie es sicher die Leser auch sehen. Feuer, Wasser, Luft Schönheit, Beharrlichkeit und Bedrohung und wiederum Auflösung gipfeln in der Liebe. Das tote Wandern durch die Stadt, die Hohlheit einer Jahrmarktswelt, die, bunt und lustig, doch erschreckt – was für eine Beschreibung!“
Ursula Fricke (80) , Illustratorin des Buches

 

Leseprobe:

Es piepste im Mikrofon. Die ersten zwei Festreden überstand Caro, indem sie die Kunstblumen in Emmas Hut zählte. Neununddreißig. ‚Mist, das mit Knexens Reich’, dachte sie. Da war noch eine Blume im Hut, die sie vergessen hatte zu zählen. ‚Vierzig also.’ Bestimmt gab es spannende Neuigkeiten aus dem Raraku, Caro musste unbedingt mit Knexen reden. Warum nur hatte sie, anstatt ihn danach zu fragen, ihn angeblafft wegen des blöden Kleides? Nun war er weg und sie machte sich wirklich Sorgen. Seitdem das im Zwergenreich geschehen war, war sie nicht mehr dort gewesen, nicht einmal zu einem kurzen Besuch. Hatte dieser Wächter ihr womöglich den Zugang zwischen beiden Welten versperrt? Was, wenn herausgekommen war, dass Knexen sie sehen konnte? Wenn man ihm plötzlich glaubte, weil der Zwergenwächter, der sie zurückgeschickt hatte, sich ebenfalls an Caro erinnern würde?
„Oder hat dieses strahlende Wesen mit dem Silberdings die Macht, seine Erinnerung daran einfach zu löschen?“, murmelte sie halblaut.
„Nein“, sagte Knexen. Er stand plötzlich neben ihrem Stuhl im breiten Gang zwischen den Zuschauerreihen. Ein bisschen Raraku-Sand rieselte aus seiner Kleidung und verwehte ungesehen.
„Knexen!“, rief Caro halblaut. Sie bemerkte nicht, dass der Redner einen Moment stockte und sie irritiert ansah, zu froh war sie, den Zwerg zu sehen.
„Es war tatsächlich eine Weltenwanderin, Caro!“
„Was? Wer?“
Erneut stockte der Redner, dieses Mal sah er vorwurfsvoll in Caros Richtung. Sie sah es nicht, sie nahm nicht einmal wahr, dass Ana sie mahnend anschaute und ihr Vater ein wenig verwirrt die Augenbrauen zusammenzog. „Psst!“, machte Ana. Der Redner begann erneut mit dem Absatz, den er schon einmal vorgelesen hatte.
„Wer ist sie, Knexen?“, flüsterte Caro.
„Ich habe keine Ahnung. Aber es klingt spannend, oder? Sie hat dieses strahlende Ding bei uns verwahrt, im Erzberg, weil es in ihrer Welt nicht mehr sicher ist. Anscheinend will es ihr jemand stehlen.“ Knexen machte eine Pause, denn die Leute waren aufgestanden und applaudierten. Schnell sprang auch Caro hoch von ihrem Platz. Der Redner deutete eine Verbeugung an. Eine Frau aus der ersten Reihe stand auf und überreichte dem Professor ein geöffnetes Kästchen.
„Aber wer ist dieses Wesen?“, rief Caro. Ana stieß sie in die Seite und schüttelte ärgerlich den Kopf.
„Es gibt eine Sage über sie im Zwergenreich, bloß will sie mir keiner erzählen. Und alle behaupten plötzlich, sie hätten gar keine Musik gehört und sie wären auch nicht aufgesprungen und all das.“
„Seltsam. Warum sagen sie so etwas? Ich hab’s doch auch gesehen.“
„Entweder, sie haben es wirklich vergessen ...“
„So ein Quatsch!“ Der Festakt erfuhr eine deutliche Unterbrechung. Alle sahen auf Caro, die einen Punkt auf dem leeren Gang anstarrte und laut gerufen hatte.
„Vielleicht, ich weiß nicht“, sagte Knexen. „Ich dachte, du verstehst es.“
„Es hört sich seltsam an.“
„Es ist auch seltsam“, sagte Ana plötzlich, die dunkelrot im Gesicht war. Sie fasste Caros Hand und zwang sie, aufzustehen und zum Ausgang zu gehen. Caro erhaschte einen Blick auf ihren Vater. Er schaute zu Boden.
Draußen auf dem Parkplatz schüttelte Ana sie wie einen Apfelbaum. „Caroline! Was denkst du dir nur dabei! Deinem Vater das schöne Fest zu verderben! Und er hat ja bloß noch dich! Warum redest du laut mit irgendwelchen Geistern? Ich fürchte, wir müssen wirklich mit dir zum Arzt gehen!“
„Au Backe“, seufzte Knexen, der ihnen gefolgt war. „Ich treff dich im Baumhaus, Caro!“
Ana fasste Caro wieder energisch bei der Hand. „Komm. Wir nehmen den Bus.“ Während des langen Weges nach Hause schwieg sie. Als sie in der Villa waren, musste Caro sich ihr gegenüber an den großen Tisch im Büro setzen. ‚Die Erwachsenen’, dachte Caro, ‚immer, wenn es absolut nicht weiterhilft, wollen sie reden.’
„Ich brauche keinen Arzt, Ana. Ich bin total normal.“
„Dann hör auf, mit dir selbst zu sprechen.“

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