Wendelin Mangold - Neue Zeitvermessung

NEUE ZEITVERMESSUNG

KI: „Zeitvermessung“ kann – je nach Kontext – vieles bedeuten: die philosophische Reflexion über Zeit, die minutengenaue Erfassung von Arbeitsstunden oder die präzise Messung physikalischer Abläufe.

Karl Schlögel, Friedenspreisträger 2025, beschreibt in seinem Buch Auf der Sandbank der Zeit (Hanser Verlag, München 2025), wie Europa neu vermessen werde. „Wir sind durch die glückliche Fügung von 1989 wieder in Nachbarschaften eingetreten, die für immer verdorben und zerstört schienen – durch eigene Schuld. Während sich nach Westen hin über viele Jahrzehnte Normalität, ja gute und ersprießliche Nachbarschaft eingespielt hat, ist in der östlichen Nachbarschaft noch viel zu tun.“ (S. 91)

Was aber haben Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis mit Krieg und Frieden zu tun? Und weshalb komme ich überhaupt auf diesen vermeintlich abwegigen Gedanken?

Vor Kurzem landete ich unverhofft im Krankenhaus und teilte mir ein Zimmer mit einem schwerkranken Mann. Ich versuchte, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Er wusste weder sein Geburtsjahr noch sein Alter; doch mit glänzenden Augen erzählte er von seinen Weltreisen als Mitarbeiter einer Fluggesellschaft. Ein Schlaganfall hatte sein Kurzzeitgedächtnis fast vollständig ausgelöscht – die jüngsten Ereignisse waren ihm entschwunden, während ferne Erinnerungen unvermindert lebten.

Unwillkürlich glitt mein Gedanke zu den gegenwärtigen Kriegsereignissen in der Ukraine. Ich fragte mich, ob nicht auch politische Entscheidungen von einer Art „Gedächtnisverlust“ geprägt sein können – ob ein fehlendes historisches Kurzzeitgedächtnis ebenso verhängnisvoll wirken kann wie das Ignorieren des Langzeitgedächtnisses eines ganzen Kontinents. Und ob der zerstörerische Entschluss, diesen Krieg zu beginnen, nicht weniger einem rationalen Kalkül als vielmehr einem fatalen Moment der Verblendung entsprang.