04.07.2021 - aktueller Autor - Sönke Baumdick
Biografisches – Sonnenaufgänge
Ich war mal an einem Punkt, da hatte ich für mich bzw. für das Leben folgende Leitlinien herausgearbeitet: Nichts hat Gültigkeit, nichts ist von Bestand, das Gestern war immer besser. Was natürlich Unsinn war, gerade Ersteres: Liebe und Freundschaft zum Beispiel haben Gültigkeit, die Menschenwürde ist unantastbar (GG-Artikel 1), und das Gestern ist auch nicht besser gewesen, sondern eher beschissener, nur lag aus meiner Perspektive, wenn auch unerreichbar, im Gestern die Chance, meine Fehler nicht zu wiederholen, nicht die Grenzen zu überschreiten und Dinge zu tun, die mich daran zweifeln ließen, ob selbst Freundschaft oder Liebe vor dem menschlichen (meinem) Wüten sicher sind. Wenn doch nur Zeitreisen schon erfunden wären!
Diese Skepsis gegenüber Statements, unverrückbaren Dingen, einengen-den Strukturen hatte ich schon aus der Schule mitgebracht, wo es mir schwerfiel, mich klassischen Peer-Groups anzuschließen: Ich hatte, um in klassischen Highschool-Film-Mustern zu denken, coole und nicht so coole Freunde. Für die eine Gang war ich zu nerdig, für die andere nicht nerdig genug. Und „die Coolen“ ließen keinen Zweifel daran, bei wem ihrer Meinung nach meine Zeit besser investiert sei. Seit der Schule stößt klassisches Peer-Group-Verhalten mit seiner Rollenverteilung und all seinen Initiationsriten bei mir auf Ablehnung, und Menschen, die glauben, anderen mit Arroganz begegnen zu können, machen mich traurig und wütend. Mir tun Menschen ehrlich leid, die sich darin verrennen, immer und über-all Stärke zeigen zu müssen. Das Leben ist zu vielfältig, um seine Energie auf diese Art zu verschwenden, und unsere Poeten-Gruppe sowie Poetry-Slam generell zeigen mir, dass den Wunsch, sein Herz auszuschütten, seiner Gedankenwelt Ausdruck zu verleihen, die unterschiedlichsten Menschen und Charaktere in sich tragen. Gleichzeitig brennt auch in mir ein Verlangen nach Zugehörigkeit, nach Identität, und das gehört wohl irgendwie zum Leben, zum Menschsein dazu. Ich habe gelernt, diese Widersprüche, das Irrationale, zu umarmen und Kraft daraus zu ziehen, Schwächen, Selbstzweifel und Unsicherheit offen anzusprechen, und auch dieses „gelernt“ formuliere ich nur unter Vorbehalt, da es ein Prozess ist, der mich mein Leben lang testen und herausfordern wird. Das sind Schritte auf einem schmalen Grat, denn die Gefahr des immerwährenden Selbstzweifels drängt sich durch die ständige Prüfung natürlich auf, aber auf der anderen Seite bewahrt es davor, sich in vermeintlicher Selbstsi-cherheit in Parolen und Grundsätzen zu verzetteln, die später dann keinen Moment der Schwäche mehr zulassen. Ich will mich nicht einengen lassen: Ich bin Friedens- und Seebrücke-Aktivist, Sozi, Ratsherr, Pflege-Assistent, Bildungsreferent und Freiwilligendienst-Teamer, steige in Norwegen auf Berge, durchquere mit dem Kanu Seen und Flüsse, stelle mich abends gerne auf einen Feldweg, beobachte die Sterne und verfolge die Bahn unserer Nachbarplaneten, und doch schaffe ich es morgens einfach nicht, aufzustehen, verbringe ich lieber ganze Wochenenden mit guten Serien und Filmen im Bett statt in meinen Wanderschuhen und lasse einen Urlaub statt in der Wüste oder auf Gletschern auch gerne mal am Pool stattfinden, wenn der Internetempfang stimmt. Und obwohl mich oft das Gefühl beschleicht, viel zu viel zu chillen, habe ich trotzdem nicht einmal die Hälfte der Netflix-Serien gesehen, über die alle reden. Natürlich war das Gestern schon ziemlich gut, aber inzwischen lebe ich in der Gewissheit, dass es weiterhin gut sein kann, ich es in der Hand habe, vie-les auch besser zu machen, und zum Glück sind da auch die Dinge, die Gültigkeit haben und Bestand: Liebe, Familie und Freundschaft. Und Sonnenaufgänge!
Ich liebe Sonnenaufgänge. Wenn nachts am Himmel die Sterne durch die Jahrmillionen führen, dann morgens am Horizont erkennbar ist, wie die Erde sich dreht, dann kenne ich meinen Platz in diesem Universum. Und auch der hat Gültigkeit, mit all seinen Sorgen und Unsicherheiten.
im Geest-Verlag veröffentlcht:
in
Kulturschocker - HEIMAT UND IDENTITÄT BEKENNTNISSE EINER POETRY SLAM GRUPPE