17.03.2023 - aktuelle Autorin - Nina Tröger

Nina Tröger, Hamburg
Appell an someone in the Glashaus ohne Schuld


Teil eins

Was fällt Euch eigentlich ein?
Ihr zieht durch unsere Straßen und verbreitet extre-mistische, verschwörerische und verlogene Ideolo-gien.
Ihr formiert Querfronten durch die Mitte unserer Ge-sellschaft, wie die Philister im Krieg gegen sich selbst.
Gegen den Frieden, der wohl nur allzu gewöhnlich daherkommt, weil er gefühlt schon immer da war.
Gegen die Freiheit, die Euch zwar das Denken und Meinen und Sagen erlaubt, aber zu Euren Gedanken und Euren Meinungen und Eurem Gesagten keine Beifallgarantie gewährt.
Gegen die Demokratie, die mit dieser für Euch uner-träglichen Eigenverantwortung aufwartet und Ihr zwar alles andere übernehmen wollt, aber eben nicht Verantwortung. Weil das ja anstrengend wäre, weil Ihr dann nicht mehr diffamieren könntet, sondern die Prozesse konstruktiver Gemeinschaft aushalten müsstet.
Eure Freiheit ist eine mit Privilegien geteerte vielspu-rige Autobahn, auf der Ihr tempo- und auch sonst sehr unlimitiert und haltlos dahinrast. Mit Vollgas auf der Suche nach Orientierung, nach ein bisschen Wegweiser, ein bisschen Leitplanke.


Was fällt Euch eigentlich ein?
Ihr dürft als hasserfüllter Mob alles und Ihr tut des-halb auch alles, sogar die Meinungsfreiheit totsagen und die freie Presse angreifen.
Dieses Land ist so frei, dass Ihr es laut schreiend und ungestraft als Diktatur beschimpfen dürft. Ihr gebt mit dieser gedanken- und respektlosen Behauptung nicht nur Euch selbst der Lächerlichkeit preis, son-dern nehmt den tatsächlichen Diktaturen dieser Welt, den Despoten und Autokraten, den Unterdrü-ckern, den Völkermördern, den Machtergreifern und Machtausnutzern ihren wortwörtlichen Schrecken. Ihr lasst sie im Sumpf der Verharmlosung, Belanglo-sigkeit und Ignoranz versickern.
Ihr seid Euch selbst am nächsten. Und dann funktio-niert das mit der Nächstenliebe ja auch ganz gut.

Was fällt Euch eigentlich ein?
Euer alternativer Journalismus ist schlicht keine Al-ternative. Denn alternativ bedeutet zwar anders, doch gleichwertig. Ihr aber brecht die Regeln des Anstands, die Regeln der Transparenz, die Regeln der Wahrhaftigkeit, die Regeln des Nach-bestem-Wissen-und-Gewissen. Ihr hebelt unverschämt all diejenigen Werte aus, die Euer Tun überhaupt erst möglich ma-chen. Ihr seid Schmarotzer dieser Wertegesellschaft und tragt eine unerträgliche Doppelmoral zur Schau. Euer Geschriebenes und Gesagtes, Euer Gepostetes und zigtausend Mal Geteiltes ist deshalb mitnichten gleichwertig. Und ganz sicher keine Alternative.  
Teil zwei

Was fällt uns eigentlich ein?
Wir scheffeln Reichtum und Macht als gäb‘s kein Morgen. Als gäb‘s keine Kinder, nichts nach uns. Nur die Sintflut.
Wir instrumentalisieren die Krisen zu unserem Nut-zen, als kämen sie uns grad‘ so gelegen. Habgierig gießen wir Wasser auf die Mühlen des Misstrauens, des Hasses, der Verzweiflung. Und wir kommen trotzdem damit durch.
Wir weigern uns beständig zu verantworten. Wir fin-den routiniert die nächste und übernächste Ausrede. Klammern an unserem Hab, an unserem Gut, an un-seren in die Wiege gelegten Privilegien. Buckeln nach oben und treten nach unten. Leben über den Ver-hältnissen der anderen.
Wir beuten aus, wir heimatvertreiben, verkaufen flei-ßig Panzer. Wir rüsten wieder auf, lassen Friedens-prozesse scheitern und überfüllte Lager versinken wie Atlantis im Feuer. Weil wir nicht nachgeben wol-len. Denn wir wären zwar klüger, aber auch schwä-cher. Und Schwäche ist unter unseresgleichen ja ver-pönt.
Wir biedern uns an. Inkludieren uns in das Mantra des grenzenlosen Wohlstands. Wir sind dem Irrglau-ben eines unendlichen Wachstums verfallen wie Wahnsinnige einem Abgott.



Was fällt uns eigentlich ein?
In einer Tour, ohne Punkt und ohne Komma, am lau-fenden Band, am seidenen Faden beurteilen, verurtei-len, urteilen wir über andere.
Wir nehmen den Frauen immer und wieder die Selbstbestimmung über ihre Körper in einer widerli-chen patriarchischen Manier. Sprechen der Weiblich-keit die Intelligenz, die Entscheidungsfähigkeit und die Handlungskompetenz ab.
Einfach, weil wir das schon immer so gemacht haben.
Einfach, weil wir Macht haben. Und die Angst, sie zu verlieren.
Wir lassen unsere Priester lustwandeln im Garten Eden der Versuchung und sie sich jahrzehntelang und auch weiterhin hinter verschlossener Beicht-stuhltür ungestört selbst beweihräuchern.
Auf der anderen Seite derselben Medaille verbieten wir Menschen, sich zu fühlen, wie sie sich fühlen. Wir verbieten Menschen, sich zu lieben, wie sie sich lie-ben. Wir verbieten Menschen.
Was fällt uns herrgottnochmal ein?


Teil drei

Was fällt mir eigentlich ein?
Ich nutznieße dieses System, als gäb‘s kein Morgen. Als gäb‘s keine Kinder, nichts nach mir. Nur die Sint-flut.
Ich rüste meine Wortwaffen auf und greife an. Ich will nicht nachgeben und halte mich trotzdem für klüger.
In einer Tour, ohne Punkt und ohne Komma, am lau-fenden Band, am seidenen Faden beurteile, verurtei-le, urteile ich über andere.
Wenn Ihr durch die Straßen unserer Großstädte zieht, erhebe ich mich nur vom Sofa, um die Jalou-sien herabzulassen.
Wenn Ihr Eure Hetze und Euren Hass verbreitet, schaue ich fern und unterschätze die Wucht des querfrontalen Aufpralls, als würde mich der Friede langweilen.
Vor lauter Langeweile stammtische ich so vor mich hin und führe meine eigene Idee von Demokratie ad absurdum.
Ich reise auf meiner privilegierten Landstraße und helfe tatkräftig dabei, die Chancen der Krisen zu ver-tun. Am Ende geht es doch nur um mich selbst.

Was fällt mir eigentlich ein?
Ich begrabe meine Meinungsfreiheit lebendig unter der Maßlosigkeit meines Likens und Kommentierens und Bewertens und Influencens. Ich verdecke sie un-ter der aalglatten Oberflächenpatina meines sound-sovielsten Beauty-Channel-Abos. Ich bette das Den-ken und Mitdenken auf der seichten Bequemlichkeit des Online-Shoppings und dem Happy-Feel-Good meiner 30-Tage-Yoga-Challenge. Der Sarg sind pseu-donymes Bodyshaming und eine Reihe von Hate-comments, weil Du nicht auch lifestyle-fit-beauty-product-thumb-up bist.
Ich begrabe ganz meinungsfrei die Meinungsfreiheit, weil ich I don‘t like you mit Meinung verwechsle und ich für über eine Millionen Follower auch gar keine echte Meinung brauche.
Und by the way kommentiere ich voller Selbstgefal-len die mangelnde Rechtschreibung der Bildungs-unter-mir-Schicht.

Was fällt mir eigentlich ein?
Ich überlasse den freien Raum widerspruchslos den populistischen Strömungen. Ich rede mir ein, das wä-re nicht wirklich gefährlich, und mache einen Podcast zum Thema Achtsamkeit.
Ich bin die überheblich schweigende Mehrheit.


Teil vier

Wir verschandeln die Solidarität, dieses höchste Gut der Menschlichkeit, und ziehen sie in den Dreck, weil unsere verlogene Solidarität da endet, wo es uns un-bequem wird. Wo der Gefallen an uns selbst einer inflationären Selbstdarstellung beim Solidarisch-Sein zum Opfer fällt.
Oder wir einfach keine Lust mehr haben zu verzich-ten, wenn uns die Erkenntnis reift, dass es um Ver-zicht zugunsten anderer geht.
Denn jetzt sind wir endlich mal dran, und Verzicht ist ja Luxus und hey, schließlich schenkt uns ja auch kei-ner was.
Oder doch?
Wir sind Schönwetterdemokraten, taking it for gran-ted, aber nur als Einbahnstraße.

Solidarität ist eine freiwillige Haltung. Solidarität kann man nicht gebieten. Dafür braucht es keine Po-litik. Dafür funktioniert keine Politik. Es geht nicht darum, was ich tun darf, sondern um das, was ich tatsächlich tue. Mein Verzicht auf Dinge, die ich nicht zwingend brauche, ließe Freiraum entstehen für an-dere. Wahrhaftige Solidarität wäre ein Kreislauf aus Vertrauen, Wohlwollen und ehrlicher Abwesenheit von Neid. Und der Genügsamkeit, mit dem zufrieden zu sein, was ich habe. Das ist schwierig. Stimmt. Aber Hand aufs Herz, haben wir dieses Problem nicht schon lange?

Wer ist also nun David? Und wer ist Goliath?
Und ist David am Ende nicht auch ein Mörder?
Teil fünf

Was fällt uns eigentlich ein?
Irgendwie. Verdammt. Wenig …


 Nina Tröger, in der Großstadt geboren, am Meer auf-gewachsen, klettert und arbeitet in den Bergen. Schreibt Texte zwischen depressivem Frohsinn und heiterer Melancholie. Kann nicht singen, darum liest sie. Gerne auch vor. Hat zwei ziemlich erwachsene Kinder und ist überall dort zu Hause, wo Freunde sind. Oder niemand.

Im Geest-Verlah erschienen:

Nina Tröger: Irgendwo da draußen .... Geest-Verlag 2022