17.09.2021 - aktuelle Autorin - Andrea Balna

Andrea Balnat, Esenshamm
Zerstören, um Neues zu schaffen


Die letzten Wochen hatte sie wie unter einer Käseglocke erlebt. Dumpf und wie vom Leben abgeschnitten.
Und jetzt, hier in ihrer Küche, völlig unerwartet, kam auf einmal die Wut.
Gewaltig.
Um ein Haar hätte sie das Ei in ihrer Hand zerdrückt.
Sie atmete tief durch. Tränen stiegen in ihr hoch. Sie spürte die Wut im ganzen Körper.
An die Stelle des düsteren Gifts, das sie seit Wochen träge und unbeweglich gemacht hatte, war ein flammender stechender Schmerz getreten. Und Ag-gression. Mit viel Energie.
Sie atmete tief durch und war verwirrt.
Sie musste etwas tun. Etwas musste zerstört werden, sonst würde sie explodieren.
Ein bisschen irre schaute sie sich um und dann wusste sie, was sie tun musste …
Sie rannte in den Keller und holte einen Karton. Dann öffnete sie mit einem Schwung die Vitrinentür. Da stand es: Maria Poesie. Ihr zwölfteiliges Service von Rosenthal. Das hatte sie als junge Frau gesammelt. Gespart hatte sie dafür. Sie hatte das altmodische feine Porzellan geliebt. Sie hatte es gehegt und gepflegt.
Sie donnerte alles in die Kiste. Dann schnappte sie den Autoschlüssel und verfrachtete sich selbst mits-amt dem Karton in den Wagen. Tränen liefen über ihre Wangen. War es gut, jetzt Auto zu fahren? Egal.
Sie kannte die Stelle genau, zu der sie musste.
Sie fuhr die schmale Straße, die für den öffentlichen Straßenverkehr gesperrt war, ein paar Kilometer ent-lang. Es war tiefer Herbst. Kein Mensch war zu sehen. Dann parkte sie den Wagen, griff nach der Kiste und rannte den Deich hoch. Es war Ebbe. Die Spundwand kam ihr gerade recht. Mit zitternden Händen griff sie nach der ersten Tasse. Wie hatte sie dieses Service geliebt. Alle hatten sie deshalb belächelt, weil es so aus der Zeit gefallen war, so romantisch, so kindlich. Sie hatte sich einfach nur daran erfreut.
Sie holte aus und warf. Mit einem Klirren und Schep-pern zerschellte die Tasse an der Betonmauer.
Tränen und Rotz und Schnodder liefen ihr übers Ge-sicht. Sie verrichtete ihr zerstörerisches Werk mit viel Tatkraft. Eine Kraft, die tief aus ihrem Innern kam.
Wie oft hatte sie dieses Geschirr aufgedeckt? Zu be-sonderen Anlässen: als ihre Tochter Taufe gehabt hatte, als sie das erste Mal in dem schönen Sied-lungshaus Kaffee getrunken hatten. Wenn die Eltern kamen. Seine Eltern. Wenn sie ihm sonntagmorgens Kaffee ans Bett gebracht hatte. Nach erfüllenden Liebesnächten. Wenn finanzielle Engpässe besprochen werden mussten. Gemütliches Kaffeetrinken an Sonntagnachmittagen.
Sie schrie auf. Und griff sich drei Teller auf einmal und donnerte sie entzwei.
Der Schmerz stieg stechend in ihr hoch.
Seine Lügen des letzten Jahres. Sie schmiss eine Un-tertasse. Sein Betrug. Ein Dessertteller folgte. Seine lieblose Ignoranz, obwohl er sah, dass sie litt. Ein Teller und noch einer und noch einer. Seine Kälte. Zwei Tassen. Sein ewiges Ausweichen. Drei Untertas-sen. Die demütigende Gleichgültigkeit. Die Geliebte, mit der er jetzt ein neues Leben lebte. Tassen und Tassen und Teller und Teller flogen durch die Luft und zerschellten an der Mauer.
Sie hatte das ganze Service zerschmettert. Jetzt ging sie in die Knie und der letzte Rest an Energie floss durch Tränen aus ihr heraus.
Sie fühlte sich mit einem Mal leer, aber unendlich erleichtert. Jetzt konnte sie wieder aufstehen. Sie atmete tief durch und putzte sich die Nase. Ihre Hän-de zitterten nicht mehr. Der Herbstwind strich über ihr Gesicht. Sie empfand die kühle Frische wie ein vorsichtiges Streicheln. Sie musste lächeln. Sie emp-fand wieder etwas.
Ohne sich umzusehen, drehte sie sich um und stieg über den Deich zu ihrem Wagen.
In der Ferne kam eine Frau mit einem Hund.
Nichts wie weg.
An der Spundwand blieb das zerschlagene Geschirr zurück. Wenn die Flut kam, würden die Scherben auf eine Reise gehen. Ein tröstender Gedanke.

Monate vergingen.
Das Leben war einfach weitergegangen und sie hatte einfach weitergelebt.
Allein, zunächst stolpernd, dann immer trittsicherer. Selbstbestimmt. Frei.
Frei, Dinge zu tun, die sie sich in ihrer Ehe versagt hatte.
Sie bedauerte das Ende ihrer Ehe nach wie vor, sie war nicht frei von Traurigkeit, aber sie schätzte auch diese neue Lebensart. Und sie hatte sich selbst zu schätzen gelernt. Ein ganz neues Gefühl. Ein gutes Gefühl.

Sie würde mit einer Freundin nachmittags zu einer Vernissage gehen. Ganz bescheiden. In einem winzigen Café, das von jungen Leuten betrieben wurde. Ihre Freundin hatte sie dorthin gelotst. Eine junge Künstlerin, die an der Kunstakademie studierte, hat-te ausgestellt. Sie verstand nicht viel von Kunst und dergleichen und ging nur mit, weil sie ein Glas Wein mit der Freundin trinken wollte.
Gut gelaunt kamen sie in dem kleinen Künstlerlokal an.
Und sie sah es sofort. Wie ein Blitz ging es durch ihren Körper. Da hing ein Mosaik an der Wand. Aus Hunderten kleiner Scherben. Rosa, pastell weiß. Maria Poesie.
Gebannt starrte sie auf das Kunstwerk.
„Gefällt es Ihnen?“, fragte die junge Künstlerin, die zu ihr trat.
„Es ist wunderbar. Es hat eine ganz einzigartige Kraft“, antwortete sie.
„Danke“, antwortete die Künstlerin, die fühlbar stolz auf das Kompliment war.
„Das ist aus einem Service gemacht?“, fragte sie vor-sichtig.
„Ja. Eine sonderbare Geschichte. Ich bin mit meinem Hund am Deich entlang gegangen im letzten Herbst und dort lagen die Scherben. Wer schmeißt ein sol-ches Service weg?, habe ich mich gefragt. Aber irgendwie hat mich der Scherbenhaufen sofort ange-sprochen. Eine zerstörerische Kraft ging davon aus. Ich wusste sofort, dass ich etwas daraus würde machen können. Es war ein innerer Impuls. Selbst der Karton stand noch neben dem Porzellan.“
„Das ist ein wunderbares Kunstwerk. Verkaufen Sie es mir?“
„Gerne“, antwortete die Künstlerin.
„Wie heißt es?“, fragte sie.
„Poesie. Wissen Sie, ich habe recherchiert. Das Ser-vice, das es vor der Zerstörung war, heißt Maria Poe-sie“, antwortete die junge Künstlerin.
„Sie sollten es umbenennen. Nennen Sie es: Zerstö-ren, um etwas Neues zu schaffen“, sagte die Frau.
„Es gehört Ihnen, wenn Sie es kaufen. Sie können es nennen, wie sie wollen“, sagte die Künstlerin und lachte sie an.
Ja, dachte die Frau. Ihr Service war auf eine abenteuerliche Reise gegangen und neu und wunderbar erschaffen worden. Eigentlich viel schöner als vorher.
Ein bisschen wie sie selbst.

Andrea Balnat, geb. 1957 in Unna. Ein Sohn. Tätig als Lehrerin und Sozialpädagogin bei der FÖG in Bre-merhaven. Seit 2020 wohnhaft im schönen Esenshamm in der Wesermarsch.