24.03.2025 - aktuelle Autorin - Ingrid Ihben
Die Autorin
Ingrid Ihben wurde 1956 in Emden geboren. Sie ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter. Die meiste Zeit ihres Lebens verbrachte die Autorin in Ostfriesland und ist mit dieser Region stark verwurzelt. Ihre Bücher spiegeln ihre Heimatliebe wider. Ihre Kinderbücher wie auch ihre literarischen Beiträge in Anthologien und anderen Werken offenbaren stets die intensive Beobachtung von Natur und Gesellschaft. Die Idee ihres ersten Romans liegt in ihrer hugenottischen Abstammung begründet, ihr neuster Roman befasst sich vor allem mit den Kriegsjahren in Emden aus Sicht von Frauen. Die Verfasserin begibt sich hier gezielt auf die Suche nach Antworten für die Sprachlosigkeit der Eltern in Bezug auf ihre Kriegserlebnisse und den daraus resultierenden Konsequenzen, d. h. auch dem Verhalten gegenüber der nächsten Generation, die wiederum diese nachhaltig prägt.
Im Geest-Verlag erschienen
Ausschnitt aus Leevkes Geheimnis
Emden, Anfang August 1939 – Der Einberufungsbefehl
Leevke legte alle Unterlagen von ihrem Schreibtisch in einen Ablagekorb, den sie anschließend in einem Aktenschrank verwahrte. Der Bürovorsteher der Emder Werft, für die sie seit geraumer Zeit als Stenotypistin arbeitete, achtete akribisch darauf, dass nach Büroschluss sämtliche Geschäftsunterlagen vor Unbefugten in Sicherheit gebracht wurden. Sie freute sich auf das bevorstehende Wochenende und fuhr gut gelaunt mit ihrem alten, klapprigen Fahrrad die fünf Kilometer zu ihrem Elternhaus.
Als sie in die Hofeinfahrt einbog, sah sie ihre Eltern, die einen wütenden Eindruck machten. Sie vermutete, dass sie sich gestritten hatten, was in den letzten Jahren öfter vorkam. Meistens ging es um ihren Zwillingsbruder Onno, den ihre Mutter stets vehement vor ihrem Vater verteidigte. Früher hatte sie sich prächtig mit Onno verstanden, aber seitdem er vor Jahren der HJ, der Hitlerjugend, beigetreten war, hatte sich sein Wesen verändert. Leevke und ihr Vater sahen es mit großer Sorge, während ihre Mutter schlichtweg ignorierte, dass er sich vom NS-Regime komplett vereinnahmen ließ.
Leevke stoppte ihre Fahrt kurz vor ihren Eltern und sah, dass ihr Vater einen Briefumschlag in der Hand hielt und aufgeregt damit herumwedelte. Sein Gesicht war rot angelaufen, und auf seiner Stirn waren unzählige Falten zu sehen.
»Was hat Onno jetzt wieder angestellt?«, fragte sie missmutig und erntete sogleich einen wütenden Blick von der Mutter.
»Ich habe einen Einberufungsbefehl erhalten, kannst du dir das vorstellen?«, schrie ihr Vater außer sich vor Wut, ungeachtet dessen, dass er draußen vor dem Scheunentor stand und dass jeder in der unmittelbaren Umgebung seinen Wutausbruch hören konnte. In derselben Lautstärke fuhr er fort: »Ich bin Bauer, und Bauern haben seit jeher für die Ernäh-rung der Bevölkerung gesorgt. Ich werde einen Teufel tun und mitnichten meine Familie, meinen Betrieb und die Tiere im Stich lassen, um ein Handlanger der Nazis zu werden! Ich werde nicht weichen, so wahr ich Enno Ekhoff heiße!«
Das Gesicht ihrer Mutter war bleich geworden. Rasch sah sie sich nach allen Seiten um, aber außer ihnen war keiner zu sehen. Es war seit Jahren gefährlich, öffentlich Kritik an den Nationalsozialisten zu üben, und erst recht an Hitler. Man musste damit rechnen, verhaftet und ins KZ gesteckt oder getötet zu werden, wie es vielen Abgeordneten der SPD 1933, gleich nach dem Wahlsieg der NSDAP, ergangen war.
Ihr Vater hatte nichts unversucht gelassen, vom Kriegsdienst befreit zu werden. Er hatte der zuständigen Behörde seine prekäre Lage geschildert, erwähnt, dass es seiner Frau Okka, die an Rheuma litt, nicht möglich war – zumal als Frau –, den landwirt-schaftlichen Betrieb ohne ihn zu führen. Er hatte darauf hingewiesen, dass sein einziger Sohn Onno bereits beim Arbeitsdienst sei und zusätzlich auf dem Hof fehlte, und dass er seiner Tochter den Betrieb auf keinen Fall überlassen könne, da sie noch nicht einmal volljährig sei. Auch hatte er ihre Anstellung auf der Emder Werft erwähnt, und dass die Arbeit auf dem Hof für eine Neunzehnjährige viel zu schwer sei.
Ihm war bewusst, dass Leevke nur die Landwirtschaftsschule besucht hatte, um dem Arbeitsdienst zu entgehen, und auch, dass sie nicht gern auf dem Hof arbeitete.
So sehr er sich auch gesträubt hatte – all seine Einwände blieben ungehört. Man teilte ihm in einem Befehlston mit, dass jeder im wehrpflichtigen Alter dringend benötigt wurde und er es seinem Vaterland schuldig sei. Man stellte ihm jedoch einen oder mehrere Fremdarbeiter in Aussicht, je nach Größe des Betriebes.
Bereits ein paar Wochen später verließ ihr Vater für unbestimmte Zeit das Haus. In seiner Hand hielt er einen kleinen Lederkoffer, der nur das Nötigste enthielt. Leevke begleitete ihn bis zur Kaserne. Sie sah Militärfahrzeuge, Geschütze und einige Soldaten, die abmarschbereit auf dem Kasernenhof standen.
Gern hätte sie ihren Vater, der mit hängenden Schultern vor ihr stand, noch umarmt, aber das war in ihrer Familie nicht üblich, stattdessen gab sie ihm zum Abschied die Hand. Danach wandte sie sich rasch von ihm ab und rannte eilig nach Hause. Sie musste ihre ganze Willenskraft aufbringen, um nicht in der Öffentlichkeit zu weinen. Sie glaubte, in den traurigen Augen ihres Vaters auch ein verdächtiges Glitzern gesehen zu haben, doch das war kaum möglich. In ihrer Familie weinte man nicht, erst recht nicht vor fremden Leuten, und Männer weinten sowieso nicht.
Ihr Vater war erst einige Tage fort, als Deutschland sich bereits im Krieg mit Polen befand. Seitdem weinte und klagte ihre Mutter ständig. »Du weißt nicht, was Krieg bedeutet«, wiederholte sie gebetsmühlen-artig, »aber ich, ich habe es erlebt. Ich war erst sechszehn, als der Weltkrieg ausbrach. Glaub mir, im Krieg gibt es nur Verlierer!«
Zuerst hatte Leevke versucht, ihre Mutter zu trösten. Doch nach ein paar Tagen konnte sie das Gejammer nicht mehr ertragen. Sie wäre am liebsten fortgegangen, aber sie musste ausharren, denn die Arbeit im landwirtschaftlichen Betrieb war kaum zu bewältigen, und ihre Mutter, die vor Selbstmitleid zerfloss, war keine große Hilfe. Zumindest hatte ihr Vater kurz vor seinem Kriegsdienst eine Melkerin eingestellt, die ihr früh am Morgen und am Nachmittag mit dem Milchvieh half. Es war eine alte Witwe aus der Nachbarschaft, die ihre kümmerliche Rente aufbessern muss-te.
Leevke war wütend auf ihre Mutter, die derart die Beherrschung verlor, als wäre sie die einzige Leidtragende. Sie versuchte doch auch, sich zusammenzureißen, dabei ängstigte sie sich ebenso um ihren Vater, der womöglich bald nach Polen abkommandiert wurde. Sie hatte klaglos ihre Arbeit in der Werft gekündigt, um auf dem Hof zu helfen, wobei jetzt die meiste Arbeit an ihr hängenblieb.
Es war ausgerechnet ihre Mutter, die ihr bereits in der Kindheit eingeschärft hatte, unter keinen Umständen Schwäche zu zeigen. Und jetzt heulte ihre Mutter wie ein Schlosshund! Wenn sie mir schon das Weinen ausgetrieben hat, dachte Leevke, sollte es Mutter erst recht nicht tun.