30. Juli 2013 - aktuelle Autorin - Marion Kaltenkirchen
Marion Tonk-Kaltenkirchen wurde 1956 in Gelsenkirchen geboren und lebt mit ihrem Mann und den drei Kindern Jonas, Tonia und Samuel bis heute in dieser Stadt. Die Schullaufbahn endete 1977 mit dem Abschluss Abitur. Danach begann sie an der Ruhr-Universität Bochum das Lehramtsstudium für die Sekundarstufe II mit den Fächern ev. Religion und Philosophie. 1983 absolvierte sie dort das erste Staatsexamen, 1986 am Studienseminar Dortmund das zweite Staatsexamen. Es folgten fünf Berufsjahre an der Kollegschule in Wuppertal Barmen. Nach der Geburt ihres zweiten Kindes beendete sie - inzwischen verbeamtet - die Lehrerkarriere und widmete sich zunächst mehrere Jahre ausschließlich der Familie.
Seit einiger Zeit ist sie wieder im Schuldienst tätig
Veröffentlichungen im Geest-Verlag
Bevor Jonas zehn Jahre alt wurde, gehörten Themen wie Angst und Tod, Liebe und Hass unabdingbar in das Repertoire seiner Grundgedanken. In unzähligen Variationen artikulierte er in oft erschreckender Deutlichkeit seinen jeweiligen Gefühlszustand.
Wenn er glücklich war, brachte er ein wahnsinnig intensives Lebensgefühl zum Ausdruck. Da Jonas sich allerdings stets in Extremen bewegte, erst lernen musste, das Mittelfeld zu erobern, warf ihn die kleinste Niederlage gleich wieder zu Boden. Natürlich war sein Lebensgefühl auch hier intensiv, nur ging es jetzt in eine negative, destruktive Richtung. In diesen Phasen war es sehr schwer, ihn zu ertragen. Ich sage ganz bewusst ‚ertragen’, denn oftmals ging es um ein passives Zuschauen, ohne Chance, auf ihn einwirken zu können, geschweige denn, ihn aus der tiefen Krise wieder ‚an Land’ zu ziehen.
Wenn ein Siebenjähriger unter seinem Hochbett sitzt, hinter seinen Spielkisten versteckt, sodass ihn keiner sieht, und sterben möchte, wo wollen Sie da ansetzen? Das geht nur mit Liebe und tausendprozentigem Vertrauen – und wie oft reichte das nicht aus? Jonas hatte allerdings einen Vorteil, er konnte sich Luft machen. Er konnte und durfte, zu Hause versteht sich, wütend sein.
Er konnte und durfte ausbrechen. Er konnte und durfte laut schreien, schimpfen, fluchen und, wenn es sein musste, mit Gegenständen um sich werfen oder Türen knallen und, wenn es sein musste, machte ich mit. Er konnte und durfte weinen und alles aus sich herauslas-sen. Genauso wie wir Erwachsenen vielleicht joggen, wenn wir uns unpässlich fühlen, oder in die Sauna ge-hen, um innere Ruhe zu finden, tanzen, um Glück zu empfinden, genauso tobte und schrie Jonas oder rollte sich über den Boden. Eine Möglichkeit, wenn auch eine ungehobelte, sich zu öffnen. Es war seine Art, sich aus-zudrücken und eine Lösung, nicht an dem zu ersticken, was ihn bewegte.
Das alles in konstruktive Kanäle zu lenken, war die Arbeit von morgen. Denn es gab immer einen Tag danach. Am 15. Oktober 1989 wurde Jonas geboren. Endlich! Eine unkomplizierte Geburt – bis dahin. Dann bekam er den obligatorischen Klaps auf den Po, aber er schrie nicht! Das Sauerstoffgerät im Kreißsaal war nicht angeschlossen, also lief die Hebamme mit Jonas in den nächsten Kreißsaal. Auf dem Weg dorthin krakelte er plötzlich los. Ein Ereignis mit großer Wirkung? Das bleibt dahingestellt!
Später hieß es unter anderem, dass Jonas durch die Schwan¬gerschaft Entwicklungsdefizite aufweisen könn¬te, zu wenige Anreize erhalten habe, denn immer wieder musste ich in der Schwangerschaft Ruhe- und Liegephasen einhalten.
Auch die überdurchschnittliche Intelligenz von Jonas – er war seinen Altersgenossen intellektuell in der Regel mehr als ein Jahr voraus – wurde als Grund seiner Entwicklungsauffälligkeiten in Erwägung gezogen. Er sei permanent unterfordert, langweile sich, wobei die gesamte Verhaltensorganisation durcheinander geraten würde.
Mich überzeugten diese Möglichkeiten als Ursache für Jonas´ Verhaltensauffälligkeit nicht. Sie können sicherlich sekundär eine Rolle gespielt haben, wenn man das Verhalten von Jonas nicht auf ausschließlich eine Ursache reduziert, sondern es als einen umfangreichen Komplex, als multifaktorell betrachtet. Wie heißt es so schön: Von so was kommt so was. Das ‚Wenn-Dann-Schema’ zog sich durch die gesamte kindliche Entwicklung. Wenn Jonas auf dem Land aufgewachsen wäre und nicht in der Stadt mit dem Straßenlärm, mit der alltäglichen Hektik und anderen Belastungen, wäre mit Sicherheit alles viel einfacher gewesen. Aber Jonas lebte nun mal an einer Hauptverkehrsstraße mit seinen Ge-schwistern, mit ‚diesen’ seinen Eltern in einem Geschäftshaushalt. Für mich galt es, den Kern seiner Verhaltensauffälligkeit herauszufinden, einzugrenzen und von Sekundärerscheinungen zu trennen, um ihm hier eine Stütze zu bieten, die ihn ‚frei’ machte für sein alltägliches Umfeld. Es sei an dieser Stelle ganz deutlich gesagt: Bis mir bewusst wurde, dass es etwas herauszufinden gab, war es ein weiter Weg.
Nach zahlreichen Untersuchungen stellten sich schließlich Störungen in der Wahrnehmung heraus – auf die nähere Erklärung wird später eingegangen –, die Jonas lange Zeit beeinträchtigen sollten. Naheliegend war, dass diese Störungen erblich bedingt waren. Es setzte sich im Nachhinein alles wie ein Puzzle zusammen. Natürlich ließen sich familiäre Parallelen aufweisen, und natürlich war es verständlich, warum in der Vorgeneration nie über dieses nicht augenscheinliche Leiden gesprochen wurde.
Es gab nämlich kein Leiden!
Es gab ein wildes Kind, ein nicht erzogenes, ein fre-ches, ein trotzendes, eines, das eine Tracht Prügel nötig hatte, das gemaßregelt werden musste, aber es gab kein leidendes Kind, welches Hilfe benötigte.
Es gab da etwas, das sich ‚auswachsen’ würde. Aber was sich da genau auswachsen würde, exklusive der sich nicht auswachsenden hinterlassenen Flurschäden, bedurfte keiner besonderen Beachtung. Und genau mit dieser Unkenntnis und diesem Unverständnis hatten Jonas und auch ich permanent zu kämpfen. Ich konnte nur das, was war und was ist, in mühseliger Kleinarbeit als Wissen zusammenbasteln.
MCD – Minimale Cerebrale Dysfunktion, HKS – Hyper-kinetisches Syndrom, ADS – Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom, ADSH – Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom mit Hyperaktivität, Wahrnehmungsstörung, Zappelphilipp, Träumer, unerzogener Störenfried, Trotzkopf, Lebensmittelallergie, Asthma, Entwicklungsverzögerung, Teilleistungsschwächen, überdurchschnittliche Intelligenz, Hochbegabung und vieles mehr. Ich weiß nicht, welche der Schlagwörter auf Jonas mehr oder welche weniger zutrafen, welche tatsächlich relevant waren, welche miteinander gekoppelt waren, welche sich gänzlich überschnitten und welche mehr in die Rubrik ‚neumoderner Kram’ gehörten, einfach um etwas benennen zu können, was nur schwer zu benennen war.