30.12.2024 - aktueller Autor - Heiko Schulze


Schulze, Heiko


 

Heiko Schulze
 
1954 geboren und aufgewachsen in Osnabrück, ist gelernter Gymnasiallehrer für die Fächer Geschichte und Kunst. Er ist Autor verschiedener Publikationen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, zum Thema Kommunalpolitik, Aufsätzen zu historischen wie allgemein-politischen Themen, von Büchern zur Stadtgeschichte, historischen Romanen sowie Kurzgeschichten. Nach dem Examen war er in verschiedenen Einrichtungen der Erwachsenenbildung, bei der Kreishandwerkerschaft Osnabrück, bei der Gelsenkirchener SPD-Ratsfraktion, im Büro des dortigen Oberbürgermeisters sowie - bis 2013 - als Geschäftsführer bei der Osnabrücker SPD-Ratsfraktion tätig. Danach arbeitete er in der örtlichen Kulturverwaltung und ist nebenberuflich Lehrbeauftragter für Öffentliches Management an der örtlichen Hochschule.

Aus: Mit Feder und Hobel

Jan Hacker war eingeschlafen. Das ewig gleiche Hämmern der Räder auf den Gleisschwellen hatte ihn müde gemacht, die harte Holzbank des Waggons und die Unebenheiten auf der Strecke hatten seine Reise ins Traumland nicht verhindert. Erst ein plötzlicher, überaus lauter und schriller Pfiff der Lokomotive ließ ihn hochschrecken. „Achtung, meine Herr-schaften! Bald sind wir am Bahnhof Minden! Alles muss aussteigen. Die Fahrt endet dort. Denken Sie bitte daran: Wir befinden uns jetzt in Preußen! Und üben Sie Vorsicht beim Aussteigen, bitte!“
Die krächzende Stimme des lippenbärtigen Schaffners half dem Geweckten, sich wieder in die Wirklichkeit einzufinden. Mit einem Gähnen packte Jan sein angebissenes Stück Brot in den Rucksack, der prall gefüllt schien. Er zog die schwarze Filzjacke über, denn auf seinem Platz spürte er mit einem Mal eine kalte Zugluft. Wieder einmal stellte der Tischlergeselle fest, dass Brustkorb und Bauch seit der Lehrzeit üppiger geworden waren, was das Zuknöpfen der Kupferknöpfe nicht gerade erleichterte.
Als der breitkrempige Hut endlich korrekt auf dem blondbe-haarten Kopf saß, genoss Jan noch einmal das Panorama, das sich ihm beim Blick durch die leicht beschlagenen Waggonfenster bot. Deutlich zeichneten sich die Höhen des schon herbstlich gefärbten Wiehengebirges ab. Die zahlreicher werdenden Häuser und Schuppen ließen auf die Nähe der Stadt Minden schließen. Dicke Qualmschwaden der Lokomotive verhinderten, dass Jan draußen mehr erkennen konnte. So wendete er seinen Blick in das Zuginnere. Eng zusammengequetscht saßen die Passagiere. Ihm direkt gegenüber hockte ein Mann mit einer riesigen Schirmmütze, der seine Zeitung offenbar nicht mehr benötigte und auf den vibrierenden Bretterboden des Waggons gelegt hatte. „Kannst du behalten. Gutes Blatt!“, sagte der Mützenträger zu ihm, als er das Interesse Jans bemerkte.
Jan griff sich die Zeitung und nutzte die letzten Minuten der Bahnreise zum Lesen. ‚Das Westphälische Dampfboot’ regis-trierte er den fett gedruckten Namen des Blattes, offenbar eine Monatszeitschrift. Aktuelle Ausgabe vom September 1849. Die Schlagzeilen des Blattes forderten seine Aufmerksamkeit sofort heraus. Sie berichteten über das Ende vieler Hoffnungen. Preußische Soldaten, noch kampferprobt vom siegreichen Krieg gegen die Dänen, hielten jetzt schon einige Wochen Hamburg besetzt und zertraten alle dort gemachten demokratischen Versuche mit blanken Militärstiefeln. Ähnliches passierte seit Kurzem, so eine andere Meldung, in Oberitalien. Hier machten die kaisertreuen Österreicher Tabula rasa mit der so mühsam erkämpften oberitalienischen Republik. Jans Miene verdüsterte sich. Ihm wurde immer klarer: Der anfangs auch von ihm belächelte Spruch des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm IV., „Gegen Demokraten helfen nur Soldaten“, wurde in Europa immer mehr zur traurigen, oft blutigen Realität. Zentren der Revolution wurden zu Symbolen schwerer Nie¬derlagen. Kaiser, Könige, Fürsten und Adelshäuser schickten sich an, ihre alte Macht zurückzugewinnen.
Minden rückte näher. Jan faltete die Zeitung zusammen und verstaute sie in der Innentasche seiner Jacke. Wieder ertönte ein ohrenbetäubender Pfiff, diesmal die Signalpfeife des Schaffners, und beim Einfahren in den Bahnhof ließ auch die Lokomotive noch einmal ihr Pfeifen hören.