Frauke Tuttlies - Rudi hat Köpfchen (Gedicht des Tages vom 2. Dezember)

Hördatei: 

Rudi hat Köpfchen

Die Gesichter der Häuser,
verschlossen.
Abweisend standen sie,
eine Reihe.
Nr. 19 fiel nicht aus dem Rahmen. Und doch

schlummerte etwas hinter der stillen Fassade.

Vor dem Eingang stapelten sich Bewerber,
warteten auf die Öffnung der Pforten
zum Besichtigungstermin.
Unwillkürlich suchte ich Abstand.

Sah mich um.
Rannte zur nächsten Straßenecke, in den Blumenladen,
erstand eine Pfingstrose. „Ein Bestechungsversuch“,
die Maklerin nahm meine Rose, musterte mich.
Ich bekam die Wohnung.

Während des Einzugs klopfte Henrika an meine Tür,
hauste zwei Stockwerke über mir.
„Keine Familien, keine Kinder, praktisch keine Männer“, weihte sie mich ein,
„unsere Maklerin sucht die Mieter sorgfältig aus.“
In meinem neuen Zuhause lebten zwölf Frauen,
ein Schwuler und Rudi,
Rudi gleich neben Henrika,

angeblich.
Aus seiner Wohnung drang kein Laut.
Keiner der Hausbewohner hatte ihn je gesehen.

Doch die Miete überwies er stets pünktlich.
 
„Was riecht hier so komisch“,
mit einmal rümpfte ich die Nase.
„Kommt von drüben“, behauptete Henrika. Auf den Geruch
folgten Geräusche, sie rief mich erneut zu sich.
Wir standen in ihrer Wohnung, lauschten.
Nebenan schimpfte, schrie und lallte jemand
lautstark vor sich hin.
„Er lebt“, seufzte ich. Wie lebendig Rudi war,
bekamen wir in den nächsten Wochen zu spüren.

Von einem Tag auf den anderen trat Rudi vor seine Tür,
war plötzlich im ganzen Haus präsent.
Er trug einen Teil der Einrichtung aus seiner Wohnung,
verteilte sie auf den Fluren und Treppenabsätzen,
machte es sich in allen Etagen gemütlich.
Das Podest vorm Dachboden
nutzte er als Bett, wickelte sich in seinen Schlafsack, schnarchte durchs Treppenhaus.

Die Hausbewohner reagierten besorgt.
Wir erkundigten wir uns nach Rudis Befinden,
unterhielten uns mit ihm, wünschten ihm
einen schönen Schlaf und guten Morgen.

Von so viel Aufmerksamkeit umschmeichelt,
blieb Rudi außerhalb seiner Wohnung im Haus zu Gast.

Eines Wochenendes
kündigte ich meinem Freund die Beziehung. Boris
verlor die Nerven, zerschmetterte zum Abschied
die oberen Scheiben meiner Haustür.
 
Ich hatte die Scherben kaum beseitigt, schon
steckte Rudi den Kopf durch die Öffnung, erkundigte sich
nach meinem Befinden. Ich bat ihn
den Döz aus meiner Wohnung zu nehmen
und hängte ein Stück Stoff vor die klaffenden Löcher. Rudi
schob es beiseite.

Ich kam aus dem Badezimmer,
Rudi hatte Angst, ich könne mich erkälten.
Ich machte mir etwas zu Essen,
Rudi fand, es röche lecker.
Ich legte Musik auf,
Rudi wollte gern etwas anderes hören.
Ich sah fern,
Rudi schaute immer mal wieder rein.
Ich ging zu Bett,
Rudi schlief vor meiner Tür.

Montag früh kam der Glaser.

Nach und nach
gewöhnten wir uns an Rudis Allgegenwärtigkeit im Haus, schenkten ihr kaum mehr besondere Aufmerksamkeit.
„Ich geh nur mal schnell Milch holen“,
so begann Rudi bei uns zu klingeln,
wenn er das Haus verlassen wollte.
Auch wenn er wiederkam, machte Rudi das Schellemännchen, wir ertrugen auch das.
 
Später läutete Rudi in der Nacht.

Eines Nachts
drückte er sämtliche Klingeln. Hörte nicht auf.
Mit einem Schlag versammelten sich alle Hausbewohner.
In Nachthemden, Negligees und Pyjama
standen wir, zwölf Frauen und ein Schwuler,
das Empfangskomitee für Rudi.
Boten nicht nur ihm, sondern auch den Saufkumpanen,
die er von der Straße mitgebracht hatte,
einen göttlichen Anblick.
Rudi strahlte vor Freude.

Wir riefen die Polizei. Die Polizei den psychiatrischen Dienst.