Büttner, Norbert: Abgestürzt
Autor:
Büttner, Norbert:
Abgestürzt
und andere Erzählungen.
Vechta-Langförden, Geest-Verlag, 2007
ISBN 978-3-86685-054-5
213 S., 11 Euro
Norbert Büttner, geb. 1962, wohnhaft in Berlin, Angestellter, veröffentlicht Lyrik und Prosa in Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien. Vorliegendes Buch enthält 11 Erzählungen, von denen die meisten im Milieu der Arbeitswelt spielen. Begriffe wie Solidarität, Streik und Multikulturalität werden hier gelebt. Zum Glück gibt es noch Autoren wie Norbert Büttner, der diese Welt schildert, die in der Literatur ja in der Zwischenzeit schon völlig vergessen scheint.
Leseprobe
Die Rede
Aufgeregt stand ich hinter dem Eingang der Kongresshalle und spähte in den Strom der Sekretärinnen, Angestellten und Arbeiter, der an mir vorbeiflutete, doch sah ich niemand von meinen Kollegen, mit denen ich mich verabredet hatte. In Gedanken verloren, erschrak ich, als mich jemand plötzlich ansprach.
Es war Gernot. Auch er war schrecklich nervös. Er klopfte mir mehrmals auf die Schulter und zerrte und zupfte ständig an seiner Jacke herum.
„Bist du dir unserer Sache wirklich sicher?“, raunte er verschwörerisch.
Ich nickte. „Keine Angst, wir sind ja nicht allein, sondern mehrere, da wagen sie sich nicht so schnell vor.“ Ich schlug auf meine Brusttasche. „Hier ist das Manuskript. Ich hab’s gestern abend auf der Maschine abgeschrieben. Jetzt kann es jeder leicht lesen. Und zum besseren Erkennen habe ich die einzelnen Abschnitte sogar mit Farbstift markiert!
Ein Gong ertönte, und über die Lautsprecheranlage bat eine sanfte Stimme alle in den großen Saal. Die Menge bewegte sich auf die weit aufgesperrten Saaltüren zu, eilte über die Treppen hinauf auf die Tribünen. In der Vorhalle wurde es plötzlich leer.
„Wo sind denn die anderen?“, fragte Gernot. „Wenn wir alleine bleiben, trage ich unsere Rede nicht mit vor!“
„Die kommen sicherlich noch rechtzeitig“, versuchte ich ihn zu beruhigen. Dabei war ich selbst sehr unsicher geworden. Und wir waren uns alle doch so einig gewesen, die heutige Versammlung nicht nutzlos verstreichen zu lassen. Vor allem Detlef hatte uns mitgerissen, er hatte geschrien: „Jetzt hauen wir mal ordentlich auf den Tisch! Die sollen wissen, dass sie mit uns nicht alles machen können!“
Und nun ließ er uns anscheinend hängen. Er war ja immer sehr sprunghaft, heute Flamme, morgen Eis, aber dass er jetzt zu kneifen schien, das hätte ich nicht gedacht.
„Da sind sie endlich!“, rief Gernot erleichtert aus.
Atemlos näherten sich uns Detlef und Achim. „Entschuldigt bitte unsere Verspätung“, sagte Detlef, „aber wir haben solange auf Walter gewartet.“
„Er hat sich nicht gemeldet und wir haben keine Ahnung, wo er steckt“, bestätigte Achim ratlos.
„Das ist doch jetzt egal“, sagte ich schnell. „Wir sind genug Leute. Und jetzt rein!“
Die oberen Ränge des Saals und die Tribünen waren schon besetzt. Wir mussten uns im Parkett einen Platz suchen. Genau vor uns war auf Augenhöhe die Bühne. Mehrere Tische waren auf ihr zusammengestellt worden. Einige Männer saßen bereits hinter ihnen, sie schrieben irgendetwas in ihre Schnellhefter oder lasen irgendwelche Papiere. Der Geschäftsführer hatte in einer Ecke noch einmal einen Kreis von Abteilungsleitern und höheren Angestellten um sich versammelt, denen er offensichtlich letzte Anweisungen für ihr Auftreten während der Versammlung erteilte.
Der Saal summte wie ein Bienenstock. Noch immer eilten Nachzügler herein und suchten in den vollen Reihen nach einem freien Platz.
Der sanfte Gong ertönte zum zweiten Mal. Der Geschäftsführer schritt auf die Bühne. Ein Mann, der in der Mitte der Tischreihe saß, zog ein Mikrofon zu sich heran. Es war der Betriebsratsvorsitzende.
Er hüstelte geziert in das Mikrofon und erklärte die Betriebsversammlung für eröffnet. Gleich zu Anfang forderte er alle Fremden, die nicht ausdrücklich eingeladen worden waren, auf, den Saal zu verlassen. Nach einer kleinen Pause, in der natürlich niemand gegangen war, stellte er das Präsidium der Versammlung vor: den Geschäftsführer, die Betriebsräte und den Gewerkschaftssekretär. Er betonte dann noch, dass alles, was hier gesagt werden würde, auf Tonband aufgezeichnet wird, damit es der Betriebsrat besser auswerten könnte.
Sein Stellvertreter ging dann zu einem Stehpult am Bühnenaufgang. Er hatte einige Blätter Papier bei sich, von denen er mit zittriger Stimme ablas.
„Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben euch hierhergebeten, da nach den Berichten in den Medien unser Unternehmen sich in arger Schieflage befinden soll. Die Geschäftsführung hat bislang jede Auskunft dazu verweigert. Das kann sie auf dieser Versammlung korrigieren. Wir wollen nur in unser aller Namen sagen, dass wir es unerhört finden, wie mit uns umgegangen wird ...“
Meine Gedanken irrten ab. Ich ging unsere Rede noch einmal Satz für Satz durch und zweifelte plötzlich, ob wir wirklich die Kollegen von unseren Argumenten überzeugen könnten. Wie aus weiter Ferne hörte ich die gleichmäßig dahin plätschernde Rede des Betriebsrates, der nun inständig darum bat, doch nicht immer über die Köpfe der Betroffenen hinweg zu entscheiden. Wenn für einen Moment sein Zorn aufloderte und er mit Aktionen der Belegschaft drohte, gab es Bewegung im Saal; aber wenn er dann fast greinend an die Verantwortung der Unternehmensführung für die Beschäftigten erinnerte, versank alles wieder in schläfrige Stille.
Doch als der Geschäftsführer aufstand, brodelte es wieder in der Menge, und von den oberen Rängen gellten laute Pfiffe.
Der Geschäftsführer lächelte mokant und begann mit einem Scherz über den schönen und sehr teuren Saal, in den der Betriebsrat einlud und den natürlich das Unternehmen bezahlen würde. Im Saal lachten einige. Aber auf den Rängen schrien andere: „Komm endlich zur Sache!“
„Zum Anlass der Versammlung“, sprach der Geschäftsführer weiter und blickte hoch zu den Rängen. Alle warteten gespannt. „Um es kurz zu machen, die Meldungen über unsere schlechte Geschäftslage entsprechen leider den Tatsachen. Ich weiß, dass sie persönlich daran keine Schuld tragen. Aber wir müssen unser Unternehmen erneuern. Dabei wird es nicht ohne schmerzliche Veränderungen abgehen.“
Ein zorniger Aufschrei schlug ihm entgegen.
Der Geschäftsführer sprach ruhig weiter. „Wir werden – das als erstes— keine Entlassungen vornehmen. Aber es wird einen sozialverträglichen Personalabbau geben. Und wir werden eine Innovationsoffensive einleiten. Wir brauchen viel mehr Flexibilität. Hierbei kann es kein Tabu geben.
Ob vermehrte Teilzeitarbeit oder bessere Nutzung von Arbeitszeitkonten— es muss alles versucht werden, um das Unternehmen wieder auf Vordermann zu bringen. Und ich fordere ausdrücklich alle Mitarbeiter auf, ihre Vorschläge dazu einzureichen, denn es ist uns bewusst: Nur gemeinsam werden wir an die früheren Erfolge wieder anknüpfen können!“
Der Beifall, den er daraufhin erhielt, war fast stärker als die Buhrufe.
„Da steht uns aber etwas bevor“, murmelte Gernot verzagt, „mit unserem Beitrag stellen wir uns ihm ganz entgegen.“
„Vielleicht bekommen wir sogar mehr Beifall“, entgegnete ich. „Und auf jeden Fall ist es kein bestellter. Guck doch nur, wer alles geklatscht hat – fast alles nur höhere Angestellte.
Nach der Pause waren wir dran. Der Betriebsratsvorsitzende blickte uns erstaunt an. „Wollt ihr alle zugleich reden?“, fragte er belustigt.
„Wir haben eben gemeinsam etwas mitzuteilen“, beschied ich ihn.
Ich legte unser Redemanuskript aufs Pult. Es war nur eine Seite, vierfarbig angestrichen. Den Auftakt machte ich selber.
„Liebe Kolleginnen und Kollegen, wieder mal sind unsere Arbeitsplätze gefährdet, da es dem Unternehmen schlecht gehen soll. Dabei sind die Auftragsbücher auf Monate hinaus gefüllt, und die Werkhallen schieben Überstunden, um alle Aufträge abzuarbeiten. Und laut FAZ vom 19. des Monats hat unser Unternehmen eine Dividende von 6% ausgeschüttet. Trotzdem ist der Aktienkurs unseres Konzerns mächtig gesunken, denn zwölf Prozent ist das Minimum an Rendite, das ein erfolgreiches Unternehmen erbringen muss. Aus uns soll daher mehr Profit herausgepresst werden!“
Gernot, der neben mir aufgeregt auf seinen Einsatz wartete, legte sofort los, noch ehe ich den Satz beendet hatte.
„Ist das aber so neu für uns? Seit sieben Jahren –das kann ein jeder hier bestätigen – haben sich unsere Arbeitsbedingungen ständig verschlechtert, egal, ob behauptet wurde, das Unternehmen sei Top oder Flop. Unser Weihnachts- und Urlaubsgeld ist eingefroren worden und wird nur noch unter Vorbehalt überwiesen. Überstunden werden ab einer bestimmten Menge nicht mehr bezahlt, sondern gutgeschrieben, und unsere Belegschaft hat sich in den letzten Jahren um ein Drittel verringert. Aber wir erzeugen um die Hälfte mehr als früher.“
Detlef hatte nicht aufmerksam zugehört. Als Gernot jetzt endete, wusste er nicht, wo er einsteigen sollte. Ich zeigte ihm die Stelle.
„Aber wir erzeugen um die Hälfte mehr als früher. Flexibilisierung bedeutet für uns: Mehr arbeiten für weniger Geld, aber wenn der Profit nicht stimmt, fliegen wir trotzdem. Das wollen wir nicht mehr hinnehmen! Es muss Schluss sein mit den ständigen Angriffen auf unsere Löhne und Arbeitsplätze! „
Das erste Mal zuckte Beifall durch den Saal.
„Wir fordern den Betriebsrat auf, keine Vereinbarungen über unsere Köpfe hinweg abzuschließen, die weitere Flexibilisierungen, Lohnkürzungen oder Ähnliches enthalten!“
Den letzten Abschnitt übernahm Achim. Gespannte Stille war im Saal, als er las: „An dieser Stelle möchten wir auch ein Wort an die Gewerkschaft richten. Sie ist die Vertreterin aller Arbeiter und Angestellten. Es ist nicht gut, wenn sie erst auf die Unternehmen schimpft und dann doch mit ihnen Verträge abschließt, die sie zufriedenstellen, aber nicht uns. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir finden, es ist genug geklagt und gejammert worden! Nur auf unserer Arbeit beruht der Betrieb. Wenn wir etwas wollen, dann sind wir eine Macht!“
Stürmischer Beifall rauschte auf, besonders auf den Rängen wurde ohrenbetäubend geklatscht. Und im Saal, das sah ich gut, wurde heftig diskutiert.
Der Betriebsratsvorsitzende nahm unser Redemanuskript wortlos entgegen. Wir verließen die Bühne.
„Das ist doch gut gewesen“, sagte Gernot munter. „Der Chef hat eine eisige Miene gekriegt. Und die Betriebsräte saßen plötzlich steif da wie die Ölgötzen!“
Auf dem Weg zu unseren Plätzen dankten uns einige für unser mutiges Auftreten. Ein älterer, untersetzter Kollege packte meine Hand und meinte: „Ihr habt gut gequatscht – aber wie soll es nun weitergehen?“
„Das liegt vor allem bei uns“, erwiderte ich. „Wenn wir weiter besprechen, was wir wollen und wie wir es erreichen können – ob in den nächsten Wochen auf den Sitzungen der Gewerkschaftsgruppen oder auch privat – und wenn wir dann entschlossen genug sind, es umzusetzen, dann werden wir vieles von dem verhindern, was die Geschäftsführung mit uns vorhat. Komm doch einfach zu unserem Treffen!“