Kleeberg,Lis: Gegangen
Lis Kleeberg
Gegangen
ISBN 3-934852-74-2
338 Seiten, 10,12 Euro
Wer mit 55 Jahren seinen ersten Roman abschließt, nimmt nicht an, daß drei Jahrzehnte vergehen werden, ehe der dritte Roman erscheinen kann.
Lis Kleeberg, die 1975 mit "Schmale Sonne", dem Roman über eine Siebzehnjährige debütierte, erzählte seinerzeit die Geschichte einer Untersuchungshaft, die Geschichte einer Diebin aus Liebe. Auffallend an dem Roman sind die der Protagonistin angemessene Sprache und die genaue Detailkenntnis. Beides verleiht dem in der DDR vielgelesenen und auch als Hörspiel adaptierten Buch Frische und authentische Atmosphäre.
Gefragt nach ihren Anregungen, eine Fragestellung, die sich gerade nach dem gut zehn Jahre später erschienenen zweiten Roman "Das andere Leben" (1986) einstellte, erklärt Lis Kleeberg gern die Dreieinigkeit ihrer literarischen Rezeptur: ein Teil Erlebtes, ein Teil Gehörtes, ein Teil Phantasie.
Und tatsächlich ist der in einem (heute nicht selten als Seniorenresidenz bezeichneten) Altersheim angesiedelte Roman "Das andere Leben" das szenische Spiel in einem Gedankengebäude. In der Geschichte von Johanna, Max und Meta hat die Autorin den Ton getroffen - im anderen Leben ihrer Figuren. Hingegen jenes seltene, aus der eigenen Herzkammer zu vernehmende Raunen, hat sich so unmittelbar wohl erst bei der wiederum Jahre dauernden Arbeit an dem nunmehr dritten Buch der heute 85jährigen Autorin eingestellt, einem überaus persönlichen Buch, das im Zuge des langjährigen Schreib-Prozesses gekonnt das Periphere des Privatimen hinter sich läßt.
Clearissa, alleinerziehende Mutter eines fast und eines beinahe erwachsenen Kindes, geht ihren Weg, den Weg gen Westen. Einen Weg, der 1985 noch für einige Jahre als illegal gilt und offiziell DDR-Flucht geheißen wird. Das Zauberwort Familienzusammenführung, das sich später als ein Synonym für staatlich sanktionierten Menschenhandel erweisen soll, ist zu sperrig, um sich an Ort und Stelle in einen Fahrschein für die Kinder in den Westen verwandeln zu lassen. Also muß ein Wunder geschehen und den Zug - luftkissengleich - über die Grenze tragen.
Doch aus Clearissa wird selbst als besorgte Mutter kein Familienmensch. Unrast treibt sie um, auch jenseits der Demarkationslinie. Vielleicht ist es Hausgeburten eigen, den Ort, den sie zuerst erblickt haben, nicht für die Welt zu halten. Oder sind es die Briefmarken, diese mehr oder minder seltenen Kleinkunstwerke, hohheitliche Zeichen fremder Länder und Währungen, die Sammler und Betrachter mit Weltlust infizieren?
Weltlust ist es, was Clearissa seit ihren Studientagen in Berlin verspürt. Weltlust und weltliche Lust. Um so mehr muß sie verzweifeln, als vor ihren Augen die Berliner Mauer aus unzähligen von Schlußsteinen errichtet wird. Zum ersten Mal denkt das Sonntagskind daran, aus dem Leben zu gehen. Auch der 13. August 1961 ist ein Sonntag.
Welcherart Zwänge eine freie Existenz in sich birgt, muß Clearissa zunächst in der bayrischen Metropole, danach in Italien, speziell in Frankreich und schließlich in der britischen Hauptstadt erfahren. Über die jeweils fremde Sprache verfügt sie schneller, als über die jeweiligen Zahlungsmittel. Die Menschen, die ihr begegnen, sind in großer Zahl nett, nice und gentil zu ihr. Doch mit guten Worten kann am Ende niemand seine Miete bezahlen.
Clearissa, die Stehauffrau, mutiert als Mutter zur eher fernen denn nahen Freundin ihrer Kinder, scheitert als Leder-Designerin an fehlender Lobby und kommt mit ihren Männerbekanntschaften meist nicht über ein erstes Nachtmahl hinaus. Ausgepowert, zielt sie mit ihrem rosinantenhaften Wagen nach dem mißglückten Selbstverwirklichungstrip schlußendlich auf ihren Tod.
Von Anfang an beschwört Lis Kleeberg in ihrem Roman das "wiederholte Erdenleben" und nimmt mit den Anklängen an die Wiederverkörperungsidee dem Tod seinen Schrecken. Eine Thematik, die Goethe 1779 auf den "Gesang der Geister über dem Wasser" brachte, jene großartigen Verse, die wie keine anderen gleichsam zu trösten und zu erheben verstehen: "Des Menschen Seele / Gleicht dem Wasser: / Vom Himmel kommt es, / Zum Himmel steigt es,/ Und wieder nieder / Zur Erde muß es, / Ewig wechselnd ..."