schlichte, joachim: auch elefanten weinen

Autor: 

joachim schlichte
auch elefanten weinen
gedichte 1
titelfoto von daniel bierbaum
geest-verlag 2010
isbn 978-3-86685-238-9
11,- euro

 

hilf
los

nicht einmal
mehr ein buch stabe flößt

ergebnisorientiert aber müssen
sich alle jene buch oder staben sogar be nehmen

das könnte
fast ein gedicht sein
notfalls sich wehren

Dieses kleine Gedicht, Schlichte selbst spricht bei seinem Werk von
Nicht-Gedichten, eher Gedanken- oder Traumfetzen, Aphorismen,
dokumentiert die Funktion seiner Gedichte. Der Autor befindet sich
angesichts einer sich ihm entfremdenden Welt eines kulturellen und
sozialen Untergangs (gewordener gewöhnungszustände) im Zustand einer
Hilflosigkeit. Gewesene Sicherheiten bis in den kleinsten Bereich lösen
sich auf, werden von ihm misstrauisch beäugt, hinterfragt, seziert,
dividiert. Wörter werden ihrer Großschreibung entledigt, häufig in
Wortfetzen zerlegt, um sie in ihrer eigentlichen Bedeutung erfahrbar zu
machen, neuen Bedeutungen zuzuführen. Nein, nicht der Versuch einer
neuen, sinnerfüllenden Ideologie treibt ihn an, vielmehr der Versuch
eigener sinnlicher und gedanklicher Existenzrettung.
Dabei gelingen ihm ‚Nichtgedichte’ in einer Bandbreite von elementarer
ästhetisch-romantischer Schönheit und dadaistischer Zerrissenheit, ein
Spiegelbild grundlegender gesellschaftlicher Situation des Individuums
im Zeitalter einer durchinstrumentalisierten Ökonomisierung, in der
jegliches menschliche Gefühl ergebnisorientierter Vermarktung unterliegt
und seiner humanen Bedeutung beraubt wird, ohne dass das Individuum die
Suche nach sich selbst und seinem Verhältnis zur Gesellschaft selbst
aufgeben kann. Eine Lähmung, die Joachim Schlichte sprachlich aufzuheben
sucht, sich dabei selbst misstrauend, ob er nicht  wieder den
gesellschaftlichen Strukturen bzw. Fremdbestimmungen unterliegt.
Bemerkenswert, dass er dabei nicht in den Strudel ästhetischer
Abstraktheit gerät, vielmehr der alltäglichen Wirklichkeit immer
verhaftet bleibt.

all tag

gelähmt im alltags nichts
im nichts des alltags
ohne all
ohne tag
schleppten namen sich
jeder trug die seinen
jede trug die ihren
durch die leere
all gegen wärtiger verlorenheit
ohne all tag
alltag suchend

Perfekte Präzisierung in der Komposition eines jeden Nicht-Gedichts
in Gedankenführung und sprachlich musikalischer Hinsicht verstehen sich
als eingelöste Aufgabe bei Schlichte von selbst.
Schlichte bricht unsere alltäglichen Sichtweisen mit der brutalsten Form
der Wirklichkeitsbrechung: der erhaltenen kindlichen Naivität, die aus
einem ursprünglichen Sehnsuchtsverhalten gespeist wird.

ich bin kind geblieben
welch glueck
ists glueck
kind zu sein in sehnsucht
nach einem kuss?

Die Zerstörung lieb gewonnener Alltagswirklichkeit durch die
sehnsuchtsvolle Radikalität kindlicher Ursprünglichkeit – bereits der
erste Band der Gedichte von Joachim Schlichte überzeugt in inhaltlicher
und formaler Hinsicht, verleiht dem Gedicht als Nichtgedicht eine neue,
radikale Bedeutung.

Buchpremiere:
Die Buchpremiere findet am 29. April um 19.00 Uhr im Dorftreff Rendel
statt. In den Band führt ein, Verlagsleiter Alfred Büngen. Musikalische
Gestaltung des Abends durch Simon Ehrler. Es liest der Autor.

Biographisches:

joachim schlichte
schule (in lübeck) – abitur (in frankfurt am main) – studien :
musiklehrer , chordirigent , musikwissenschaften , germanistik ,
kunstwissenschaften – wurde promoviert mit hauptfach musikwissenschaften
in frankfurt main – arbeit für das internationale quellenlexikon der
musik mit teilweiser finanzierung durch die deutsche
forschungsgemeinschaft – rückzug aus dem so called ‘aktiven’ berufsleben
, um sich der familie ganz widmen zu können – aufbau und nach 10 jahren
aufgabe eines kleinst-verlages für musikwissenschaftliche publikationen
(forschungsgebiet jazz rock pop) –
5-jähriger ausflug in die aktive politik –  ... – heute schreibt er .