Zimmer, Viktor: Ein langer Weg zurück. Eine Kindheit in Russland
Viktor Zimmer
Ein langer Weg zurück
Eine Kindheit in Russland
Geest-Verlag 2007
150 S. 12,50 Euro
ISBN 978-3-86685-051-4
Zimmer gelingt es in diesem Buch, anhand seines eigenen Schicksals eine Geschichte der deutschrussischen Kindheit in Russland in den Kriegs- und Nachkriegsjahren zu zeichnen. Ein Buch, dass mehr als spannend zu lesen, dem bundesdeutschen Lesern gerade auch mit seiner sprachlichen Leistung das Schicksal der Deutschen in Russland ein Stück weit näher bringt.
Leseprobe:
1941 erhielt mein Vater Urlaub und er nahm uns mit in die Ukraine, um unsere Verwandten mütterlicherseits zu besuchen. Lediglich unsere Großmutter blieb zu Hause. Ab diesem Zeitpunkt beginnt wohl meine eigene bewusste Erinnerung.
Auf unserer Reise in die Ukraine sah ich zum ersten Mal eine Dampflokomotive, die schnaufte, knirschte und pfiff und die so groß war, dass ich den Kopf in den Nacken werfen musste, um sie in ihrer ganzen Größe zu erfassen. Die Lokomotive zog so viele Waggons, dass es schwierig war, sie zu zählen. Ich war bis in die Tiefe meiner Seele beeindruckt. Das war etwas, was man den anderen Dorfjungen erzählen konnte, um damit zu prahlen.
Ich war im Jahre 1935 in einem Dorf im Altai-Gebiet geboren worden.
Nach den Erzählungen meiner Eltern lebten wir vor dem Zweiten Weltkrieg nicht schlecht. Im Jahre 1937 wurde mein Vater zu Buchhalterkursen in die Stadt Charkow geschickt, die sechs Monate dauerten. Nach dieser Ausbildung beorderte man ihn zur Arbeit in einen abgelegenen Bezirk der Region der Stadt Nowosibirsk.
Es war eine typisch sibirische Siedlung mit zwei landwirtschaftlichen Betrieben: der Kolchose und der Sowchose (Staatswirtschaft). Mein Vater arbeitete als Buchhalter in der Sowchose.
Die Siedlung lag am Ufer eines kleinen Flusses mit träge dahinfließendem Wasser, das den Lebensraum für zahlreiche Fischarten bildete. Ringsherum breitete sich die Taiga aus, reich an Wild, Pilzen und Beeren. Im Winter wurden bis zu fünfzig Kältegrade erreicht, die Sommer waren regnerisch, aber verhältnismäßig warm mit achtzehn bis zwanzig Grad über Null.
In der Siedlung waren wir die einzige deutsche Familie. Mein Vater wurde in seiner Arbeit sehr geschätzt und verehrt, und uns gegenüber verhielt man sich vergleichsweise wohlwollend. Besondere Wertschätzung erfuhren wir von den Siedlern, die schon in den 20er- und 30er-Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts aus Zentral- und Westrussland und aus der Ukraine hierhin ‚verbannt’ worden waren. Es waren früher vermögende russische und ukrainische Bauern und ‚Kulaken’ (Großgrundbesitzer) gewesen, wie mein Großvater Heinrich, denen man alles genommen hatte und die mit ihren hungrigen und sogar der Kleidung beraubten Familien in das entlegene, kalte Sibirien geschickt worden waren, damit sie dort zugrunde gingen. Natürlich starben viele auf dem Weg dorthin, aber diejenigen, die lebend bis zu ihrem Bestimmungsort gelangten, akklimatisierten sich dank ihrer Anpassungsfähigkeit und ihrem Arbeitseifer schnell und lebten nach einiger Zeit nicht schlechter als die Einheimischen.
Zu wesentlichen Teilen bestand die Bevölkerung Sibiriens aus Umsiedlern, die bereits Hunderte von Jahren vor der sowjetischen Machtübernahme in das unbevölkerte Land gekommen waren und es landwirtschaftlich nutzbar gemacht hatten. Die Bauern hatten es hier zu relativem Wohlstand gebracht. Nach der Revolution aber verarmte die Bevölkerung. Die ehemals selbstständigen Bauern wurden in den Kolchosen zwangsvereint und fortan als Arbeiter mit landwirtschaftlichen Produkten bezahlt, in der Regel einmal im Jahr, im Herbst. Für ihre Arbeit erhielten so wenig, dass eine Familie außerstande war, sich davon ein ganzes Jahr lang zu ernähren. Aus diesem Grunde arbeitete die Bevölkerung in den Kolchosen lustlos. Man ernährte sich aus den eigenen Gärten und von dem, was die Wälder und Gewässer an natürlichem Reichtum besaßen.
In den Sowchosen hingegen wurde die Arbeiterschaft monatlich mit Geld bezahlt. Man konnte von diesem Geld landwirtschaftliche Produkte – Getreide und Gemüse – und Heu für den eigenen Viehbestand beschaffen. Auf diese Weise demonstrierte die Regierung die Überlegenheit der staatlichen gegenüber den genossenschaftlichen, das heißt halbstaatlichen Betrieben.
Doch ich möchte nochmals betonen, dass sich unmittelbar vor dem Krieg das Leben in den Dörfern erträglich gestaltete, vielleicht aufgrund der guten Ernten, vielleicht auch wegen der besonderen Anstrengungen der Menschen und des natürlichen Reichtums des Landes.
In unserer Sowchose lebten nur ungefähr zehn Familien mit intellektuellem Hintergrund, die des Lehrers, des Arzthelfers, der Geschäftsführer der Unternehmen und die der wenigen Büroangestellten. Alle übrigen Familien waren im landwirtschaftlichen Bereich beschäftigt. Die Menschen bauten Getreide und Gemüse an, kümmerten sich um das Vieh und beschafften und verarbeiteten Holz.
Das Leben in den Dörfern verlief mit wenigen Unterbrechungen monoton. Die Menschen arbeiteten, tranken Wodka auf sibirische Art, reinigten einmal im Jahr ihre Schuppen vom Mist, ernteten das Gemüse aus ihren Gärten, gingen auf Fischfang oder zur Jagd, beteiligten sich an den unausweichlichen Wahlen der sowjetischen Regierung und feierten diese mit großem Pomp. Sie veranstalteten Pferderennen, organisierten Essgelage mit viel Alkohol, sangen sowjetische Lieder und lagen sich natürlich am Ende zumeist sturzbetrunken in den Armen.
Ich glaube, dass mein Vater nur dank der Tatsache, dass man ihn in diese Einöde geschickt hatte, im Jahre 1937 nicht verhaftet wurde. Die Machthaber hatten ihn wahrscheinlich einfach aus den Augen verloren.