Christl Schmidt-Holländer liest in Damme
1. Dezember
2008
Bildungswerk Dammer Berge e.V
Damme
Christl Schmidt-Holländer
Sechs mal zehn.
Ein Leben findet statt.
Geest-Verlag: Vechta-Langförden, 2006
ISBN 978-3-86685-025-5
12,50 Euro
60 Geschichten aus 60 Jahren Lebensentwicklung. Lustvolle und auch
bedrängende Erinnerungen an fast Vergessenes, die sich mit
nachdenklichen Betrachtungen der gereiften Persönlichkeit vermischen.
Weit mehr als eine Biographie wird hier vorgelegt. Es geht um die
Persönlichkeitsentwicklung einer Frau, die in der kleinbürgerlichen
Enge und zugleich Vertrautheit Wuppertals in den Jahren des
Nationalsozialismus als Einzelkind aufwächst. Die in der Kindheit und
Jugend erworbenen Einstellungen und Verhaltensweisen begleiten sie ihr
ganzes bewegtes Leben lang. Durch alle Phasen der gesellschaftlichen
und auch privaten Entwicklung von 1933-1993 ziehen sich die Grundzüge
der individuellen Prägung wie ein roter Faden. Das Ringen um
Anerkennung, das zugleich die Angst vor der Ablehnung beinhaltet, die
Bereitschaft zur Anpassung, die aber ab einem bestimmten Zeitpunkt
immer wieder auch hinterfragt wird vom Verlangen nach individueller
Freiheit. Manche Leserin wird sich in den Gedankengängen der Titelfigur
wiederfinden. Der Leser wird vielleicht rückblickend weibliches
Verhalten besser oder doch zumindest anders verstehen.
So entstand neben einem begeisternden Roman, den man nicht mehr aus der
Hand legen will, eine wichtige und zugleich andere Form von
Zeitgeschichte.
Leseprobe
Wenn Christina versucht, sich an ihr Geburtsjahr zu erinnern, dann muss
sie Fotos zu Hilfe nehmen. Natürlich Fotos, was sonst? Und auch die
Erzählungen ihrer Mutter und Großmutter müssen helfen, wenn sie den Weg
zurückverfolgen will in ihre erste Zeit. Das ist ein notwendiger Weg,
ein anstrengender Weg - meint sie, und sie scheut immer wieder davor
zurück, ihn zu gehen. Die ersten Schritte zu wagen. Sie fürchtet mit
Recht, dass sie dann weitergehen muss, immer weiter, immer mehr
Schritte tun muss auf der Suche nach ihrem gelebten Leben. -
Aber eines Tages geht es nicht mehr, da kann sie sich nicht länger
davor drücken, auf ihre Anfänge zu sehen, Ausschau zu halten nach den
Menschen, die ihr zum Leben verhalfen, ihr ein Leben ermöglichten und
es bestimmten, bis lange in ihre Jetztzeit hinein. Ja, ihr Jetzt ist
nach wie vor verbunden mit dem Damals.
Das kleine Foto zeigt ein etwas mickriges Geschöpf. Eigentlich kann man
nur ahnen, dass dies ein Kind sein soll. Christina sieht sich nicht,
sie sieht weiße Tücher, die um einen winzigen Säugling gelegt sind. Und
es scheint, als käme es auf diesen Säugling auch gar nicht an. Wichtig
auf dem Foto ist die Frau, die ihn hält, die das Kind vor kurzer Zeit
erst geboren hat und gewiss herzlich und mit Besonderheit liebt. Wie
wohl alle Mütter ihre Kinder lieben, nachdem sie sich aus dem Körper
befreit haben, der sie lange trug, nährte und ertrug. "Meine Mutter
liebte mich ganz sicher sehr. Und nicht nur, weil ich jetzt außerhalb
ihres Körpers war und ihr als eine Tochter in den Arm gelegt wurde. Sie
liebte mich gewiss auch als die Lebensaufgabe, die sie durch mich
gestellt bekam. Ein Kind großziehen, einen Menschen werden und wachsen
sehen und daran Anteil haben in Freude und Pflicht! Ja, das ist doch
das Ereignis ihres Lebens gewesen. Oder nicht?" -
Christina dreht bei diesen Gedanken das kleine Bild mit dem gezackten
Rand in den Fingern, wie sie es schon oft getan hat. Sie hat dieses
erste Foto von sich eines Tages aus dem Familienalbum genommen, um es
immer wieder einmal getrennt von den anderen Bildern ansehen zu können.
Da ist etwas Auffälliges. Als junges Mädchen hat sie sich gewundert,
heute kann sie die Besonderheit formulieren. Sie kann aussprechen, was
eigentlich immer schon als Frage da war: "Warum sieht meine Mutter so
alt und so unglücklich aus, derart verkrampft und distanziert? Sie
liebt mich doch. Sie hat mich gewollt, ganz nach Plan im dritten
Ehejahr bin ich gekommen, um die kleinbürgerliche Idylle perfekt zu
machen. Warum sehe ich ihr diese Liebe nicht an? Diese Frau da auf dem
Schwarzweißfoto hat Angst. Wovor hat sie Angst? Vor wem fürchtet sie
sich? Vor dem Kind? Vor mir?" -
Die Zeiten waren unruhig. Christina kennt die Geschichten. Sie wurden
immer wieder erzählt. Während der Schwangerschaft der Mutter - es muss
eine einigermaßen beschwerdefreie Zeit für die 33jährige Frau gewesen
sein - hatte es Straßenkämpfe im Viertel zwischen den Nazis und den
Kommunisten gegeben. Es wurde geschossen in der Straße an der Wupper.
Farbmühle hieß die kurze Straße, in der schon der Vater großgeworden
war und in dessen Kindheitswohnung die jungen Eheleute zogen, mit den
Möbeln der Eltern, der Frühverstorbenen. Es war wenig Geld da, der
Vater konnte nur an drei Tagen in der Woche zur Arbeit gehen.
Kurzarbeit nannte es die Mutter, wenn sie von dieser Zeit erzählte, und
die kleine Christina fand das gar nicht schlimm. Schön ist es doch,
wenn der Mann nicht täglich zur Arbeit muss, wenn er bei seiner Frau
bleiben kann; denn die war schließlich den ganzen Tag allein und musste
sich schrecklich langweilen. ‚Dummes Kind! Du verstehst überhaupt
nichts. Wenn der Vater nicht arbeitet, verdient er auch kein Geld. Ohne
Geld ist das Leben schrecklich, nichts kann man kaufen!' ‚Ach so, ja.'
Christina versucht zu verstehen. Sieht die Mutter darum so alt und
freudlos aus?
Obwohl in diesen weißen Tüchern auf dem Foto ein kleines, gesundes Kind
liegt, obwohl da Christina liegt, die leben, wachsen, groß werden will
und dazu die Liebe und die Freude der Mutter braucht?