Alfred Büngen - Vorwort zu Volker Issmer - Unsere Zeit - Fremde Zeit Band II: Die Bedeutung des fiktiven Erzählens bei der Aufarbeitung des Nationalsozialismus
Die Bedeutung des fiktiven Erzählens bei der Aufarbeitung des Nationalsozialismus
Sollen sich Jugendliche heute mit der Thematik des Nationalsozialismus in Schule oder Weiterbildung auseinandersetzen, so erhält man von ihnen zumeist die Antwort: „Nicht schon wieder! Wir haben das schon so oft in allen Fächern gemacht.“ Doch fragt man einmal genauer nach, so ist das Wissen um das eigentliche Geschehen und um die historischen Fakten äußerst begrenzt, kann zum Teil selbst der historische Zeitraum des Nationalsozialismus nicht einmal zugeordnet werden.
Das und viele andere Faktoren sind ein deutlicher Hinweis darauf, dass beim Versuch der Vermittlung von Grundzügen der nationalsozialistischen Terror- und Schreckensherrschaft zum Zweck des Verstehens und Begreifens und des Aufbaus eines demokratischen Selbstbewusstseins an nachfolgende Generationen, also bei der Aufarbeitung, vieles nicht funktioniert hat. Doch warum und was hat nicht funktioniert?
Vorab muss die Frage gestellt werden, warum wir und auch nachfolgende Generationen weiterhin eine Auseinandersetzung mit dem schreckensvollsten Teil der deutschen Geschichte führen müssen. Richard von Weizsäckers Ausführungen von 1985 enthalten dafür noch immer die wesentliche Antwort:
„Es geht nicht darum, Vergangenheit zu bewältigen. Das kann man gar nicht. Sie läßt sich ja nicht nachträglich ändern oder ungeschehen machen. Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.“
Und diese Ansteckungsgefahren sind groß, wie wir angesichts eines nicht unbedeutenden rechtsradikalen Spektrums und antidemokratischer Grundhaltungen in der Bundesrepublik erkennen können.
Warum, kehren wir damit zu der einleitenden Frage zurück, scheiterten und scheitern vielerlei gut gemeinte Bemühungen zur Aufarbeitung des Nationalsozialismus in den vergangenen Jahrzehnten? Eine wesentliche Antwort scheint mir zu sein, dass wir die Aufarbeitung ausschließlich von einer moralischen Ebene aus betrieben. Es gab bei der Vermittlung an die nachfolgenden Generationen stets die oberste Zielsetzung der moralischen Verurteilung des nationalsozialistischen Geschehens, nicht den Versuch des Verstehens des Zustandekommens und der Funktionsweise von menschenverachtendem Verhalten, von Barbarei und Massenmord. Damit hängt unmittelbar die Verengung auf eine Täter- und Opfer-Betrachtung zusammen. Weitgehend wurde die Grauzone übersehen, wurde vergessen, dass jeder damals Lebende auf unheilvolle Weise mit dem nationalsozialistischen Regime verknüpft gewesen ist. Zusammengefasst: Wir sahen die Wirklichkeit der nationalsozialistischen Zeit nicht, da sie – vielleicht unausweichlich durch die ungeheure Schuld – für viele Jahrzehnte nicht ersichtlich sein konnte, es zudem kaum jemanden gab, der uns die nati-onalsozialistische Wirklichkeit in jedem Ort und in jeder Region berichtete.
Und heute? Heute gibt es kaum noch Zeitzeugen, die von dieser Wirklichkeit berichten könnten, auf deren Spuren wir verstehen könnten.
Autoren wie Volker Issmer haben daher eine besondere Funktion. Sie müssen uns auf der Basis der Kenntnis des realen historischen Geschehens fiktional Geschichten erzählen, damit wir heute und die Generationen von morgen und übermorgen verstehen können, wie ein solches Unrechtsregime funktionieren konnte. Sie müssen erzählen von den Wirklichkeiten der Grauzone, von der unausweichlichen Verstrickung jedes Menschen in einem verbrecherischen Regime, sei es durch schwei-gende Akzeptanz, durch Täter- oder Opferrolle.
Die Generation der Nachkriegsautoren, zu denen auch Volker Issmer gehört, hat durch die eigene Nichtverstrickung in das Geschehen die Möglichkeit, einen differenzierten Blick auf die historische Wirklichkeit zu werfen, muss sich nicht der moralischen Legitimation eigenen Handelns in jener Zeit aussetzen. Sie öffnen durch die Figurengestaltung, durch Sichtweisen und Handlungsgestaltung auch dem Leser einen anderen Blick auf das Geschehen, ermöglichen auch dem jun-gen Leser andere Zugänge. Sie können die Aufgabe der Darstellung einer vielen heute bereits ‚fremden Zeit‘ verbinden mit Erlebnissen, Haltungen und Entwicklungen unserer Zeit, wie es Volker Issmer in einigen seiner vorliegenden Erzählungen (zum Beispiel die einleitende Erzählung ‚Der Türke‘) gelingt.
Das Schaffen einer fiktiven Erzählkultur kann zwar nicht das Schweigen, das Nicht-Erzählen der Menschen aus jenen Jahren des Terrors und der Barbarei ersetzen, aber es kann versuchen, die entstandene Lücke zumindest ansatzweise zu schließen. Die Bedeutung des Erzählens in der Vermittlung historischen Wissens und der Vermittlung demokratisch engagierter Haltungen kann dabei nicht hoch genug bewertet werden, da auf der Basis individuellen Geschehens gesellschaftliche Strukturen erfahrbar gemacht werden.
Alfred Büngen
Geest-Verlag