Alt und Jung zwischen ihren Welten unterwegs - Bericht zur Lesung beim Elternverband Ruhr in Essen am 16.03.2012

Alt und Jung  zwischen ihren Welten unterwegs                      Essen, den 16.3.2012

„Du hast ja diesmal ganz anders geschrieben als sonst. Du beschreibst in deinem Text eine Seele und benutzt dafür technische Begriffe! Das geht doch nicht! Hast du deine Wurzeln verloren?“
Es ist Freitag, der 16.3.2012. Wir sind beim Elternverband Ruhr in Essen in der Unterdorfstraße 19a, bei einem der Kooperationspartner der neuen Essener Anthologie „Zwischen meinen Welten unterwegs“. Der Leiter des Elternverbandes, Herr Dr. Ali Sak, hatte Eltern, Lehrer und Jugendliche eingeladen, um mit ihnen darüber ins Gespräch zu kommen, wie sich junge Menschen, deren Familien nach Deutschland eingewandert sind,  mit dem Welten- Thema  auseinandersetzen. Sie wollten hören, in welchen Welten Jugendliche heute im Ruhrgebiet unterwegs sind und wohin ihre Reise so geht. Farwa Ahmadyar, Haumand Jabar Said und Ebru Aldemir waren der Einladung gefolgt und hatten ihre Texte gelesen, die sie in der neuen Anthologie veröffentlicht haben. Was sie geschrieben hatten, löste unter den Anwesenden intensive Diskussionen aus. Gefragt wurde nach den biographischen Zusammenhängen, nach den Wurzeln, nach den Wegen und nach dem Wohin. Hat Farwa tatsächlich, wenn sie in ihrem Text „Im Palast meiner Seele“ eine Seele mit technischen Mitteln beschreibt, ihre Wurzeln verloren? Das Für und Wider ebbte nicht ab. Vor allem das  zwischen den Generationen nicht. Da gingen die Meinungen weit auseinander. Warum tut Farwa  das? Eine Verlegenheit? Ein Fehler? Oder leitet sie etwa die Erkenntnis, dass traditionelle sprachliche Mittel allein nicht mehr ausreichen, um das auszudrücken, um was es hier und heute bei uns  im Ruhrgebiet geht?
Verblüffend auch die Parallelen zwischen Haumands Geschichte über einen Jungen, der bei dem Gasangriff Saddam Husseins 1988 auf seine Heimatstadt Halabja  im Chaos beide Eltern verliert, diese aber Jahre später wiederfindet. Als unbegleiteter Jugendlicher ist er selbst vor einigen Jahren nach Deutschland gekommen. Inzwischen darf er hier leben und ist  Auszubildender in  einer großen deutschen Autofirma. Als Haumand die Geschichte von Hiwa, was übersetzt „Hoffnung“ heißt, aufschrieb, hatte er selber gerade erst seine Eltern wieder gefunden und zu ihnen Kontakt aufgenommen. Welche Gefühle durchlebte er  bei der Trennung! Welche Gefühle bei der Nachricht, dass sie noch leben. Und dann kann er zum ersten Mal wieder am Telefon ihre Stimmen  hören! Hier verschmolzen die Wirklichkeiten. Das war eine Geschichte, die in unseren Alltag hereinbrach und die   verstörte. Gibt es solche Lebenswege tatsächlich? Und dann auch noch unter uns? Neben uns?
Haumand jedenfalls zeigte mit seinem Text sehr deutlich, wie wichtig es ist, die Augen offen zu halten und anderen zu helfen, die in Not geraten sind! Konkretes menschliches Handeln ist gefragt, und zwar ganz persönlich. Auch hier in Deutschland im Ruhrgebiet. Genau deshalb konnten Hiwa und Haumand ihren Weg gehen. Sie fanden jeweils  Menschen, die sie uneigennützig unterstützten und vorwärtsbrachten. Andere Beispiele, von den Zuhörenden erzählt,  machten die Runde. Erstaunlich, wie sehr in unserer deutschen Realität gerade Deutschlehrerinnen und -lehrer dazu beitragen, dass sich junge Menschen in unsere Gesellschaft integrieren können! Und das nicht nur, weil sie ihnen die deutsche Sprache beibringen!    
Sehr eigen war auch der Text von Ebru Aldemir „Es war nicht alles“. In ihm schildert sie, wie ihre neue Klasse sie im fünften Schuljahr aufgenommen hat, weil sie als einzige ein Kopftuch trug. Warum ging sie nicht „einfach so“ auf die anderen zu? Warum zog sie sich zurück? Auch hier gab es Diskussionen unter den Zuhörenden. Die Älteren forderten, man solle offensiv für die eigene Sicht der Dinge einstehen. Die Jüngeren wiederum zeigten Verständnis für die geschilderte Haltung. Wer kann schon offensiv und direkt auf andere zugehen, wenn er alleine ist? Immerhin habe sich Ebru ja nicht ganz zurückgezogen, sondern Wege gefunden, sich in der Klasse zu behaupten. Sie habe es ja mit Englisch versucht. Verschiedene Welten? Verschiedene Welt-Sichten? Haben sich die Generationen tatsächlich so weit voneinander entfernt? Wer weiß! Jedenfalls wurden die unterschiedlichen Positionen  offen angesprochen, und das ist gut so! Denn nur so kommt man ins Gespräch, lassen sich Brücken zwischen den Welten bauen!
Die anwesenden Zuhörerinnen und Zuhörer  ermunterten die jugendlichen Autorinnen und –autoren  weiterzuschreiben. Und sich forderten sie untereinander auf, genau hinzuhören. Man solle viel mehr auf das achten, wie sie schreiben, wie sie ihre Inhalte sprachlich zu fassen versuchen. Dann käme man vorwärts. Eine kritische Diskussion, und spannend allemal. Alle waren auf einmal zwischen den Welten unterwegs.
Ein bemerkenswerter Abend, der niemanden so schnell loslässt – die Lesenden nicht, die Zuhörenden auch nicht!  Danke für die Gastfreundschaft und die tolle Bewirtung!

Farwa Ahmadyar: Im Palast meiner Seele
Haumand Jabar Said (mit Rena Abdulsamad): Auch eine Geschichte
Ebru Aldemir: Es war nicht alles

Alle Texte in:
(Hg.) Andreas Klink, Artur Nickel, Zwischen meinen Welten unterwegs, Geest-Verlag Vechta 2011
(ISBN 978-3-86685-321-8; 320 Seiten, 12,00 Euro, erhältlich beim Verlag wie auch in jeder gut sortierten Buchhandlung)

artur nickel   

 

Fotos von Fotos von Celal Aydemi