Anja Gumprecht - März-Winter 2020 (Literatur in dieser schwierigen Zeit)


März-Winter 2020

Die beiden größeren Mädchen saßen am Küchentisch und waren mit ihren neuartigen Hausaufgaben beschäftigt. Die eine malte eine alt-ägyptische Gottheit, die andere rechnete. Bei ihr war die Luft zwar raus, aber sie wollte die Seite fertig machen, damit sie am Heftende einen weiteren Stern bunt ausmalen konnte.

Wir waren dabei, uns einigermaßen an die neue Corona-Routine zu gewöhnen. Mein Mann war nebenan im Homeoffice in die tägliche Telefonkonferenz eingebunden. Ich schälte und schnitt Möhren, als die Küchentür aufflog und unsere Jüngste hereinspazierte. Sie hatte sich heute erstaunlich lange im Kinderzimmer allein beschäftigt. Nun trug sie ein aufgeschlagenes Liederbuch vor dem Bauch, in der Hand hielt sie den elektronischen Stift, den ihre Patentante ihr kürzlich geschenkt hatte. Sie marschierte grinsend zum Sofa und legte das Buch mit bedeutungsvollem Blick auf ihren Schoß. Dann erklang, lauter als für die Raumgröße unbedingt notwendig, das Lied „Oh, Du fröhliche“. Die großen Mädchen fielen sofort lachend in die Strophe ein. Ich wollte gerade fragen, ob denn schon wieder Weihnachten sei, als die drei laut und inbrünstig „We-helt ging verlo-ho-ren“ sangen. Mir stockte ein wenig der Atem. Da waren sie aber zum Glück schon bei „Freu-heu-e-he, freu-e Dich“ angekommen.

Ohne Pause wechselten sie zu „Oh, Tannebaum“ und auch hier fiel mir auf, dass so manches Altbekannte in Corona-Zeiten einen neuen Beigeschmack bekam. „Die Hoffnung und Beständigkeit gibt Trost und Kraft zu jeder Zeit“. Die Hoffnung ja, aber die Beständigkeit? Seit Tagen hatte hier kein Wecker mehr gepiept, trotzdem waren alle früher wach als zu normalen Schulzeiten. Denn neuerdings kreist schon um halb sechs in der Früh ein Hubschrauber über unserem Haus, der den LKW-Rückstau an der polnischen Grenze begutachtete. Dieser Stau war im Moment oft länger, als die dazugehörige Autobahn.

Die drei Sängerinnen waren inzwischen bei „Morgen, Kinder, wird‘s was geben“ angekommen. Ja! Wie gern würde man den Kindern sagen: „Morgen werden wir uns freun, welch ein Jubel, welch ein Leben wird in unserm Hause sein!“. Es sieht aber leider erst mal nicht nach besonders ausgelas­senen Feierlichkeiten in größerer Runde aus. Die sind inzwischen sogar unter Strafandrohung verboten. Und niemand will und kann gerade irgendwelche sicheren Aussagen über das Morgen machen. Wenn die Kinder Fragen stellen, müssen wir leider erstaunlich oft zugeben, dass wir die Antwort nicht kennen, weil so etwas noch nie dagewesen ist.

Ein bisschen tröstlich kehrte dann zum Glück das Christuskind mit seinem Segen „ein in jedes Haus“. Möge es uns mit den Kindern zur Seite stehen und uns treu leiten, „an der lieben Hand“!