Christkindchen und Weihnachtsmann? Helga Thorwart-Bönker

Christkindchen und Weihnachtsmann?
Helga Thorwart-Bönker

Wer bringt nun die Geschenke, das Christkindchen
oder der Weihnachtsmann? Wie soll man als kleines Kind da bloß durchfinden?
Ich war vier oder fünf Jahre alt, als ich mit meinen Eltern nach Quakenbrück fahren sollte, das Christkindchen zu begucken. Es ging um neun Uhr mit der Kleinbahn los und mit dem Zwei-Uhr-Zug wollten wir zurückfahren. Vom Kleinbahnhof bis in die Stadt war es ein ganzes Stück zu laufen. Die kleinen Beine waren schon beim Hauptbahnhof müde und noch muss-ten wir die Bahnhofstraße hoch bis nach Nolten. Was gab es dort alles zu sehen: Puppen, Jungen und Mädchen, große und kleine. Ein ganzes Schaufenster voll. Ich konnte mich nicht sattsehen und bestimmt nicht sagen, welche ich am liebsten hätte. Im anderen Fenster sauste eine elektrische Eisenbahn immer in der Runde, durch den Tunnel und an Häusern vorbei. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Und was war da noch alles für bunter Kram, den ich nicht kannte! Jetzt gingen wir bei Deeken vorbei. Schöne Kleider und Pullover waren ausgestellt. Das war etwas für die Mama.
„Wir müssen erst mal eine Pause machen, lasst uns bei Adelmanns einkehren", meinte Papa. Die großen tranken Kaffee, ich bekam Kakao, und Kuchen gab es dazu. Als wir uns etwas erholt hatten, ging es weiter bis nach Bockstiegels. Die kamen einmal in der Wo-che zu uns mit einem Wagen und verkauften Kaffeebohnen und andere Sachen. Das Auto kannte ich genau. An den Seiten waren das Wappen, eine Treppe und ein Ziegenbock, der hochklettern will, angebracht. Bockstiegels hatten uns eingeladen, ihre Weihnachtsausstellung anzuschauen. Als wir hinein-gingen, wurden wir gleich durch eine Tür rechts vom Tresen geschickt. Was gab es da zu sehen! Ich glaub-te, es ginge direkt vom Laden in den Weihnachts-himmel. Lauter Schokolade und Marzipan. Von Kartoffeln über Pilze, Äpfel und Birnen, Bananen und Stuten, alles aus Marzipan. Stutenkerle und Plätz-chen und Schokoladenweihnachtsmänner. Mir blieb der Mund offen stehen. Als wir alles beguckt hatten, bekamen meine Eltern eine Tasse Kaffee und ich ein Marzipanschwein, schön rosa mit einem Halsband.
Wir warteten noch ein Weilchen auf eine mir nur flüchtig bekannte Tante, die mich dort abholen sollte. Ich war nicht einverstanden damit, musste mich aber schicken. Sie unterhielt mich, bis wir bei ihr zu Hause angekommen waren. Als Erstes gab sie mir einen großen Stutenkerl mit einer Pfeife. So weit, so gut, aber dann kam's. Die Tante fragte mich: „Na, was soll der Weihnachtsmann dir denn bringen?" Ich sagte zuerst gar nichts. Sie fragte noch einmal. Der Weihnachtsmann, was sollte das? „Bei uns kommt das Christkindchen", sagte ich recht patzig. Man hat mir später oft erzählt, ich sei richtig böse gewesen. „Sicher kommt bei euch das Christkindchen", sagte die Tante schnell. Sie wollte mich nicht verunsichern.
Die Eltern holten mich wieder ab und es ging die Kleine Mühlenstraße hinunter. Vater besorgte noch etwas bei Burken. Mama und ich schauten derweil beim Musikhaus Diekhaus ins Schaufenster. Fast so wie bei Nolten war es: Puppen, große Teddybären und Elefanten, auch eine Eisenbahn und vieles mehr. Dann bei Kleinerts die vielen Bilderbücher und ein großer Globus, den ich gerne gedreht hätte! Nun noch durch den schwarzen Weg, über die Schienen zum Kleinbahnhof. Ich war todmüde und fing fast an zu weinen.
„Wir sind bald zu Hause“, tröstete Mama mich, als die Bahn anruckelte. „Gleich sind wir in Wasserhausen, wo von Otten wohnen.“ Eine Station weiter be-merkte sie: „Jetzt ist schon Bottorf dran, wo Onkel Brokamp herkommt. Dann müssen wir bald aussteigen.“ Beim Wieruper Bahnhäuschen glaubte ich, es wäre schon so weit, aber nein, wir fuhren noch über den Eilm und dann kam Schandorf, unsere Haltestel-le. Endlich raus aus dem langweiligen Zug! Bis nach Hause zogen mich meine Eltern mehr, als ich ging. Einfach schleppen ließ ich mich. Gut, das wir endlich daheim waren. Oma wartete schon mit der Kohlsuppe auf uns. „Das Kind muss sofort ins Bett, das ist fertig mit sich und der Welt und todmüde."
Die Eltern setzten sich zum Essen hin, aber ich baute mich mitten in unserer Küche auf, weder tot noch müde, und rief trotzig: „Wer bringt denn nun die Geschenke? Das Christkind oder der Weihnachtsmann?" Was für eine Frage! Eltern und Großeltern sahen sich verdutzt an, sagten aber nichts. Opa überlegte sich noch eine Erklärung. Oma aber hatte einen Einfall. Sie sprach: „Das Christkindchen kommt hier auf dem Lande und in Menslage, wo die Häuser einzelner stehen. Aber in der Stadt, wie Quakenbrück, da muss der Weihnachtsmann helfen. Alle Häuser und Wohnungen durch. Alle Kapellen anbeten, wie man so sagt, das kann das Christkind allein nicht schaffen."  
„Ist der Weihnachtsmann denn der Nikolaus?", wollte ich noch wissen.
„Ja, das soll wohl sein, davon gibt es mehrere", meinte Oma. Sie hatte inzwischen eine Wärmflasche für mich fertig gemacht, half mir beim Auskleiden und steckte mich ins Bett. Bald träumte ich von Puppen, Eisenbahnen, Marzipan und Schokolade, vom Christkind und vom Weihnachtsmann.
Noch heute lache ich leise, wenn ich im Radio das Lied höre „Morgen kommt der Weihnachtsmann" – so, jetzt muss er in die Stadt. Wenn es aber heißt „Freue Dich, Christkind kommt bald", dann denke ich, jetzt sind wir hier auf dem Lande dran. Es ist alles nicht so einfach zu begreifen für ein kleines Kind.