In der lektoralen Endphase: Brücken bauten sich auf - Leseauszug

Brücken bauten sich auf -

Ein Projekt zum Thema Nationalsozialismus

und Ausgrenzung

Hrsg. von Alfred Büngen

unter Mitwirkung von Christine Metzen-Kabbe

Titelbild Karin Flörsheim

Geest-Verlag 2012

ISBN 978-3-86685-353-9

ca. 250 S., 12 Euro

 

Auszug: Der nachfolgende Auszug ist einer der Beiträge der Schüler, sich in die Situation einer jungen ukrinischen Zwangsarbeiterin auf dem Transport nach Deutschland zu versetzen.

 

Yannik Schloss
Es ist Nacht

Wir sind eingehüllt in ein tiefes Schwarz, umgeben von einer unbekannten Landschaft, die ich nie zuvor sah. Durch einen kleinen Schlitz in der Holzwand erahne ich die vielen Felder, auf denen sich frühmorgens langsam der Nebel bildet. Ich setze mich wieder, lege mich zu meiner kleinen Schwester, um mich zu ihr in die dünne Stoffdecke zu wickeln, die uns die Fremden gaben, denn mir ist kalt. So kalt.
Von da aus sehe ich in die vielen panischen, von qual-vollem Schmerz verzogenen Gesichter der Frauen und Männer, die wohl das gleiche ungewisse Schicksal mit mir teilen werden. Viele Eltern versuchen, ihre Kinder zu beruhigen, die vor lauter Angst schreien. Andere sitzen einfach nur verzweifelt und in ihren Gedanken verloren auf dem harten, knorrigen Holzboden. Mein Körper schmerzt, da wir seit Tagen darauf verharren müssen. Die ganze Nacht schon versuche ich, meine Augen zu schließen, um zu schlafen, der Angst und der Verzweiflung auch nur einen Moment davonzurennen. Doch die unruhigen Menschen, dicht aneinander ge¬drängt, das Ungewisse, das mit jeder Sekunde schneller auf uns zukommt, der Schmerz der Erinnerung an meine Mama, an meine Familie, das alles hält mich wach und lässt mich vor lauter Unruhe zittern. Mit jedem weiteren Angstschrei der Kinder, der die Schlafenden aus ihrem schwachen Schlaf reißt, mit jeder weiteren krächzenden Erschütterung des Wag¬gons schleicht sich auch bei mir allmählich die Furcht ein – Sorge um meine Schwester und das Gefühl, unfreiwillig geradewegs in das Unbekannte zu steuern.
Die Fremden holten uns in der Frühe und ließen uns keine Chance, uns von unserer Familie zu verabschie-den. Die bewaffneten Fremden umstellten mein El-ternhaus und befahlen mir und meiner Schwester, uns anzuziehen. Sie nahmen meinen Eltern jede Mög-lichkeit einzugreifen, denn als Papa versuchte, einen der Männer zu Boden zu reißen, bedrohte ein zweiter ihn sogleich mit gezückter Waffe. Gewaltsam schlepp-ten sie uns zu ihrem Wagen. Mama schrie vor Verzweif¬lung. Doch sie war machtlos.
Der Waggon ist überfüllt und dreckig und stinkt nach Tier. Wir kauern in einem Tiertransporter, verkleidet mit sperrigen Holzstreben und auf dem Boden liegt vereinzelt verschmutztes altes Heu. Bei schneller Fahrt pfeift der Wind durch die schmalen Schlitze an den schlecht verarbeiteten Stellen des Waggons.
Es ist kalt. Eiskalt. Unser Gefängnis wurde anfangs noch von einem kleinen, schmalen Kohleofen am Rand des Waggons beheizt, doch nach drei Tagen Fahrt stellten sie es ein.
Manchmal höre ich, wenn wir anhalten, Stimmen hinter der schweren Tür. Eine schwangere Frau sagte mir gestern, die uniformierten Männer seien deutsche Soldaten, die uns nach Deutschland bringen würden. Sie hätte Angst davor.
Meine kleine Schwester liegt dicht neben mir auf dem Holzboden. Ich umklammere ihren kalten Kopf. Sie weiß nicht, was um sie herum passiert. Dauernd fragt sie, wo Mama sei und warum Papa nicht bei ihr sei. Ich versuche, sie zu beruhigen, doch sie vermisst ihre ge¬wohnte Umgebung, aus der sie so brutal gerissen wurde, und ich weiß langsam nicht mehr, was ich ihr noch antworten soll.
Wenn ich wieder mal kurz davorstehe, in Tränen auszu-brechen, weil ich das ganze Leid in diesem Waggon sehe, in die vielen sorgenvollen Mienen der Menschen blicke, versuche ich, stark zu bleiben, denn ich muss. Ich muss meiner kleinen Schwester gerade jetzt so viel Halt wie möglich geben. Ich bin das Einzige, das sie jetzt noch hat.

Es wird Morgen. Und der nächste Tag des Ungewissen beginnt.