Der Westen berichtet ausführlich über Marion Kaltenkirchens Lesung an der Gesamtschule Heiligenhaus aus 'Born to be hypie'

Leben mit ADHS : Anders als die anderen

Heiligenhaus, 29.10.2010, Nicole Krzemien

Marion Kaltenkirchen (54) aus Gelsenkirchen schrieb ein Buch über ihre Erfahrungen als Mutter eines an ADHS erkrankten Kindes. Ihr Sohn Jonas ist heute 21 Jahre alt. Foto: Martin Möller

 

Heiligenhaus. Beim regelmäßigen Themenabend an der Gesamtschule stand diesmal ein Erfahrungsbericht im Mittelpunkt. Die Didaktische Leiterin Heike Kensy-Rinas hatte Marion Kaltenkirchen zu einer Lesung eingeladen. Die Gelsenkirchenerin ist Lehrerin, Mutter dreier Kinder und – Autorin. Letzteres ist sie unfreiwillig geworden, denn ihr ältester Sohn hat ADHS. „Born to be Hypie“, so der Titel des Buches, ist die Geschichte ihrer Familie, allen voran die von Jonas.

ADHS steht als Abkürzung für verschiedene Formen von Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörungen, landläufig auch als „Zappelphilipp-Syndrom“ bezeichnet. ADHS-Kinder können kaum stillsitzen, fallen aus der Rolle, haben Schwierigkeiten, sich über längere Zeit zu konzentrieren. Laut Schätzungen sollen rund sechs Prozent aller Schulkinder unter Hyperaktivität leiden. Jonas, heute 21 Jahre, war eines von ihnen.

„Störung der eigenen Körperwahrnehmung“

Marion Kaltenkirchen beschreibt die Krankheit nahezu frei von medizinischer Terminologie – als Mutter. Die Ursache liege in einer „Störung der eigenen Körperwahrnehmung“. Schon die allmorgendliche Aufforderung „Bitte, zieh’ dich an“ habe ihren Sohn frustriert. Er konnte sich einfach nicht alleine anziehen. So gab sie ihm jedes Kleidungsstück einzeln, zeigte Jonas, wo es hingehört. Schritt für Schritt. Für diese wie auch für viele andere Situationen im Leben mit ADHS gelte: „Es gibt keine schnelle Lösung, sondern nur den gemeinsamen langen Weg.“

Es sei, als ob zehn Telefone gleichzeitig klingeln: An welches geht man dran? Welcher Anruf ist wichtig? Oder: 100 Büroklammern liegen auf dem Tisch, suche eine bestimmte heraus – ohne Anhaltspunkte. Diesen Eindrücken seien ADHS-Kinder ausgesetzt: zu Hause, im Kindergarten und auch in der Schule, wenn es etwa darum geht, das Lineal vom Tisch zu nehmen (Büroklammer) oder eine Anweisung zu befolgen (Telefon). Die Auswirkungen sind bekannt: Sie klettern über Tische und Bänkern, bekommen plötzlich Wutausbrüche und können – ganz schwer für das Elternherz – sogar den Wunsch haben, zu sterben.

Scheitern ist vorprogrammiert

Scheitern ist vorprogrammiert. Hilfe findet sich selten, und im Alltag wird es immer schwieriger. „Alle haben gesagt, wo er nicht hingehört – aber nicht, wo er hingehört.“ Vor allem während Jonas’ Schullaufbahn. „Schule und ADHS passen nicht zusammen“, so die Autorin. In der dritten Klasse bekam ihr Sohn die Empfehlung für die Förderschule. Der Test im Krankenhaus sagte etwas anderes: Er ging zum Gymnasium, übersprang die vierte Klasse. In der achten Klasse wechselte Jonas zur Realschule, wo er auch seinen Abschluss machte.

Das Buch

Tiefe Gefühle

In ihrem Buch „Born to be hypie“ berichtet Marion Kaltenkirchen über und aus der Welt eines ADHS’lers. Ihr Sohn (heute 21) war immer anders als die anderen. Sie schreibt über alle Höhen und Tiefen, findet Worte für die durchlebten Gefühle – von Verzweiflung, Traurigkeit und Selbsthass, über Angst und Aggression bis hin zu Lebensfreude und ansteckendem Lachen. Das Buch kostet im Handel 12,50 Euro. Weitere Infos gibt es im Internet: www.born-to-be-hypie.de

Er wechselte auch deshalb, weil er sich – mit 13 Jahren – gegen Medikamente entschieden hatte, die ihn zumindest während der Klassenarbeiten beruhigen sollten. „Wisst ihr, wie weh das tut, wenn mich keiner so mag wie ich bin?“, fragte Jonas seine Mutter, als es um die Medikation ging.

Die Eltern Kaltenkirchen trugen und tragen die Entscheidung ihres Kindes mit. Und das gibt die heute 54-Jährige auch anderen Betroffenen mit auf den Weg: „Ohne wenn und aber hinter den Kindern zu stehen!“ Eltern von ADHS-Kindern brauchen ein tiefes Verständnis, müssen feste Strukturen schaffen, um ihnen Halt zu geben. Und sie sollten die Körperwahrnehmung fördern. Dabei ist Familie Kaltenkirchen auch ungewöhnliche Wege gegangen: Mit Bleibändern an den Fußgelenken empfand Jonas den Boden unter den Füßen näher – und fühlte sich symbolisch mit seinen Eltern verbunden.