Dr. Ali Sak mit einem ausführlichen Lesungsbericht zum Leseabend aus 'Märchenhaftes zwischen Emscher und Ruhr'
Gedanken zum Leseabend vom 04.02.2011 des Elternverband Ruhr e.V.
mit Dr. Artur Nickel, Dr. Andreas Klink, Elmast Kaya, Muhammed Kaya, Cansu Ağarmış, Farwa Ahmadyar, Husnia Haschemi und Nehrin KURTOV.
Dr. Ali Sak
Wieder einmal hatte der Elternverband Ruhr die Ehre Jugendliche aus dem Buchprojekt „Märchenhaftes zwischen Emscher und Ruhr“ als Gäste zu haben. Obwohl der Elternverband in den vergangenen Wochen verschiedene Lesungen mit Schriftstellern und Dichtern durchgeführt hatte, war diese Veranstaltung wiederum etwas Besonderes für uns. Überraschend für uns war dass alle Jugendlichen, die 2010 zur Lesung gekommen waren ausnahmslos wieder mit dabei waren. Sie hatten zusätzlich noch Husnia Haschemi mitgebracht. Wie uns die Mentoren des Projektes Dr. Nickel und Dr. Klink mitgeteilt haben, wollten alle Jugendlichen auch dieses Mal unbedingt an der Lesung des Elternverbandes teilnehmen. War es verwunderlich?
Nun, für uns war es verwunderlich; zum einen, dass diese Jugendlichen wiederum erfolgreich am Schreibprojekt teilgenommen haben und zum anderen, dass diese unbedingt bei der Lesung des Elternverbandes teilnehmen wollten. Den Elternverband Ruhr freut es natürlich, dass wir zu Vorbildern für diese Jugendlichen geworden sind, bei denen sie sich wohlfühlen, sich aussprechen und Ihre Herzen öffnen können. Dieses Mal hatte ich persönlich auch etwas mehr Zeit mit den Jugendlichen über ihre Zukunft zu sprechen. Sie hatten alle ausnahmslos Visionen für die Zukunft, was für den Erfolg des Einzelnen auch maßgebend ist. Ohne Visionen, ohne Träume und sicherlich auch ohne Vorbilder wäre es in einer für sie „zwiespältigen“ Umgebung relativ schwer, Erfolg zu haben. Und der Wunsch nach Erfolg war den Jugendlichen aus den Augen abzulesen. Auch wenn keiner von ihnen Schriftsteller werden wollte; eins war klar, Sie alle wollten studieren, einige sogar Lehrerin bzw. Lehrer werden. Wir wünschen den Jugendlichen vorab viel Erfolg für Ihr weiteres Leben. Sie können sicher sein, dass der Elternverband Ruhr sie bei Bedarf weiterhin auf Ihrem Lebensweg begleiten und fördern wird.
Wie auch im vergangenen Jahr haben die Jugendlichen aus Ihren Texten vorgelesen und es wurde zum Teil heftig darüber diskutiert. Diesmal ging es aber um Märchenhaftes. Märchen sind fürwahr fest mit der orientalischen Welt und Tradition verbunden. Märchen waren feste Bestandteile der Kulturüberlieferung. Mann erzählte und hörte zu. Erzählen und Zuhören, zwei Dinge die wir heute weitgehend vergessen haben. Es ist daher etwas besonderes, wenn uns die Jugendlichen wieder zur Wiederfindung des Altbewährten helfen können.
Cansu Ağarmış las aus Ihrem Text „Märchen für die Gegenwart“ vor und fragt sich und die Zuhörer, warum Märchen eigentlich nicht in der Gegenwart geschrieben werden können? Warum diese nur in der Vergangenheit geschrieben werden müssen? Diese Frage zieht sich durch den gesamten Text von Cansu hindurch. Ist es eine Sehnsucht nach etwas Märchenhaftem? Und warum lesen wir eigentlich Märchen? Für Cansu scheinen Märchen eng verwoben mit der Wirklichkeit sowie den Entscheidungen, falsche wie richtige, die wir tagtäglich treffen und treffen müssen. Dies drückt Sie auch explizit in Ihrem Gedicht aus. „Ist es nicht unser Märchen, das uns das Falsche und das Richtige zeigt?“ Märchen als Wegweiser? Sie fragt sich weiter: „Ist es nicht unser Märchen, das uns die Traurigkeit sowie das Glücklichsein zu spüren gibt?“ Märchen als Gemütsspender? Und sie fragt sich weiter: „Ist es nicht unser Märchen, das uns an die Armut und an den Reichtum erinnert?“ Märchen als Gewissensspiegel? Und sie fragt sich schließlich: „Ist es nicht unser Märchen, das uns das Böse und das Gute vor Augen stellt?“ Märchen als Spiegel der Gegenwart? Nun, Cansu sehnt sich nach einem Märchen in der Gegenwart; wer sehnt sich wohl nicht danach? Danke und viel Glück bei der Suche nach deinem Gegenwartsmärchen, Cansu.
Muhammet Kaya erzählt in „Maalis“ die Geschichte des Sklaven Maalis der im Haus einer Königsfamilie als Diener arbeitet. Einer der nie die Welt außerhalb des Schlosses, die hinter den Mauern, gesehen hat. Doch eines Tages, in seinem Traum, macht er sich auf den Weg, die Welt hinter den dicken und großen Mauern zu erkunden. Und Maalis wünscht sich eine Welt ohne Sklaverei und wacht in einer Zeit im 21. Jahrhundert in der ersehnten Stadt Essen auf. Wunderbare Dinge tun sich für Maalies auf. Sachen die er vorher nie geträumt, geschweige denn gesehen hatte, ein I-Pad, ein Wasserbett, HD-Fernseher. Eine sonderbare Welt, in der sich Maalis versuchte sich zu orientieren. Eine Welt mit vielen Schlössern, statt den Hütten in seiner Heimat. Erstaunlicherweise merkt er, dass er Deutsch spricht, obwohl dies nicht seine Sprache war; er in eine Schule geht und sogar Aufsätze in Deutsch schreib,t und alle kannten Ihn, aber woher? Und obwohl Maalis Deutsch redete, verstand er den Spruch von anderen Jugendlichen aus seiner Schule nicht, die Ihm da nachriefen: „Raus du Ausländer“. Er verstand es nicht. Für Ihn machten diese Wörter keinen Sinn. Was bedeuteten diese drei Wörter? Wie sollte er das verstehen? Maalis war verwirrt. War etwa er mit dem Begriff „Ausländer“ gemeint? Sind Ausländer Menschen, die dicke Mauern brechen, um Ihrem Traum nachzugehen? War Maalis aus seinem Holzkäfig ausgebrochen, um in einem Käfig aus Stahl zu landen? Eine bedrückende Situation für Muhammet, der wohl hinter Maalis steckt. Muhammet entscheidet sich trotz der für Ihn „verletzenden“ Worte in seinem stählernen Käfig zu bleiben. Warum wohl? Für den Zuhörer bleibt diese Entscheidung Muhammeds unergründlich, obwohl wir versuchten, in seine Welt einzudringen, haben wir nicht verstanden, warum er sich für einen stählernen und unzerbrechlichen Käfig entscheidet und nicht für den hölzernen Käfig, den er ja schon einmal zerbrochen und in das ersehnte Land eingewandert ist? Viel ist noch zu schreiben über Muhammet’s Welt; doch die Worte reichen nicht aus. Schließen wir deshalb mit einer Anschlussfrage, die sich Maalis (Muhammet) schon mal gestellt hatte. Was bedeuten die drei Wörter „Raus du Ausländer“ und warum waren diese für Muhammet so verletzend? Danke und viel Erfolg in deinem stählernen Käfig, dessen Tür doch offen ist, Muhammet.
Husnia Haschemi erzählt das Märchen von Ayşe und Ihren Brüdern. Eine Geschichte über verbotene und verlorene Liebe, über Familien-Tradition und –Ehre. Ja über Liebeskummer, Liebesleid und Schmerz. Eine junge Dame, welche die Freiheit des Lebens spät entdeckt und es genießen will, sich heimlich in einen Jungen verliebt, was aber die Familie nicht zulässt. Und wie es halt so in Märchen der Fall ist, gibt es leider kein Happyend. Für einen gewöhnlichen Europäer klingt die Geschichte tatsächlich wie ein Märchen von tausend und einer Nacht. Aber für viele aus dem orientalischen Raum, wo auch Husnia herkommt, ist dies die Wirklichkeit. Ist dies nicht ein Märchen der Gegenwart wie Cansu es fordert? Aber sicherlich keines was sie sich ersehnt oder? Danke und viel Glück auf deinem Weg Husnia. Farwa Ahmatyar fängt Ihre Geschichte „Ein Märchen das kein Märchen ist“ mit dem folgenden Abschnitt an. „Sie alle kommen aus den verschiedenen Ländern, von den verschiedenen Kontinenten, aus den verschiedensten Gründen. Sie alle sind verschieden und doch gleich. Sie alle sind sich fremd und doch irgendwie nicht. Heute leben viele von ihnen in einem Land, das gar nicht so weit weg von hier ist, das sich einst ein Land aus tausend und eine Nacht nannte, in einer wunderschönen Stadt im Herzen NRW’s.“ Nun dieser Anfangsabschnitt des Märchens von Farwar, das ja eigentlich kein Märchen ist macht deutlich, wie Farwa und sicherlich viele dieser Jugendliche dieses Land und die Stadt sehen; als ein Teil des ersehnten, des märchenhaften und doch scheint da etwas Unheimliches in der Luft zu schweben. Farwa’s Märchen hat etwas Fabelhaftes und erzählt die Geschichte eines Neulings der in eine Farm kommt in der Ziegen, Hühner, Kühe, Schweine und andere sonderbare Tiere zusammenleben; gar Farwa’s Welt reflektieren? Sie erzählt die Erfahrungen des Neulings mit „Schweinen“ und merkt dass nicht alle Schweine, wie sie früher angenommen hatte, dreckig sind und im Schlamm wühlen. Nein, sie merkt dass es auch „saubere Schweine“ gibt und versucht, dies mit einem Gleichnis zu verdeutlichen „Nur weil eine Traube schlecht ist, heißt dies nicht dass alle Trauben schlecht sind“. Aber warum dieser Vergleich? Die sonderbaren Geschöpfe aus der Farm sollen nun über die Kategorisierung des Neulings entscheiden, aber nach welchen Kriterien? Nach der Konfession, nach dem Reichtum, nach der Herkunft, nach dem Äußeren? Ein Schwein steht auf und schlägt vor nach den vier bekannten Prinzipien zu entscheiden. Und plötzlich wird dem Neuling sonderbar; „tausend verschiedene Fäden in tausend verschiedenen Farben fesseln ihm (wohl Farwa) die Worte auf der Zunge, damit diese ihm nicht über die Lippen rollen“. Was für ein sonderbarer und wunderbarer Vergleich. Und doch reichen die tausend Fäden nicht aus und die Worte rollen Ihm über die Lippen. „Nach welchen vier Prinzipien? Allah (Gott) schaut nicht auf eure Gesichter, nicht auf eure Güter, sondern ganz allein auf eure Herzen, Taten und Absichten und tausend Tränen kullern dem Neuling über die Wangen“. Und der Neuling bietet den Tieren aus der Farm an, erst über Ihn zu urteilen nachdem Sie Ihn kennengelernt haben. Und der Neuling zieht seine Schuhe aus wirft es Ihnen zu und sagt: „Nehmt sie euch, teilt sie euch und geht meinen Weg… Fühlt die Tränen, jede Einzelne… geht meinen Weg, stolpert über die Steine und steht wieder auf und geht ... immer und immer wieder … Erlebt den Schmerz, genau wie ich es tat … hört euch die Melodien an, die euch auf eurem Weg gesummt werden … und urteilt erst dann über mich.“ Was für ein Schluss! Was für ein eindringlicher Appell um Vorurteile abzubauen! So lassen sich die Worte nur in Geschichten von tausend und einer Nacht zusammenreimen. Doch wir sind nicht in einem Märchen von tausend und einer Nacht, oder doch? Nein, wir sind in der Welt von Farwa. Danke für diese ausdrucksvollen und märchenhaften Sätze, Farwa.
Nehrin Kurtov: Anders als beim letzten Mal hatten wir einen weiteren besonderen Gast zu Besuch, Nehrin Kurtov, ein junger Mann aus Bulgarien, der sich darum bemüht an der Folkwang Musikschule zu studieren. Trotz seines jungen Jahrgangs ein Meister auf der Klarinette. Mit seinen gefühlsstarken Stücken lud er die Zuhörer besonders zum Träumen, zum Mitsingen und Mitmachen ein. Ist dies auch ein Anfang eines Märchens zwischen Emscher und Ruhr? Nehrin wird seine eigenen Erfahrungen machen müssen, um sein Märchen wahr werden zu lassen. Er wird wohl noch viele paare Schuhe abtreten und abgeben müssen um in der ersehnten Märchenwelt Vorteile abzubauen und akzeptiert zu werden. Danke und viel Glück, Nehrin.
Zusammenfassend ist zu sagen, dass dieses Buch in eindruckvollen und ausdrucksstarken Texten Märchenhaftes zwischen Emscher und Ruhr erzählt. Zum Teil meisterhaft in der Ausdrucksstärke, zum Teil märchenhaft, aber wieder doch nicht märchenhaft sondern sehr realitätsnah. Märchen der Gegenwart etwa? Jeder wird ein Teil für sich herausnehmen und sich wohlfühlen, wohl aber auch zum Nachdenken angeregt werden. Es ist allen zu empfehlen, die sich ein Märchenbild von den Menschen des Ruhrgebiets des 21. Jahrhunderts machen wollen. Das Buch ist ein Versuch, einen Schmelztiegel verschiedener Nationen, Religionen, Kulturen, Sprachen, Ansichten und Gestalten zu schaffen. Ein Beitrag zum gegenseitigen Verstehen und Kennenlernen. Viel Spaß beim Lesen und verschenken. Danke allen die daran mitgewirkt haben. Vor allem aber den Jugendlichen, die uns über Geschichten Ihre Herzen geöffnet haben.
Dr. Ali Sak
Elternverband Ruhr e.V.