Eine ungehaltene Rede zur Premiere des Buches 'Brücken bauten sich auf'
(ungehaltene) Rede bei der Premiere des Buches 'Brücken bauten sich auf' von Alfred Büngen
(Wegen der zahlreichen Reden von Fördern, Gästen etc.auf der Buchpremiere verzichtete Herr Büngen auf das Halten der Rede, die an dieser Stelloe veröffentlich sei.)
Sehr geehrte Damen und Herren,
dass wir Ihnen die Dokumentation des Projekts der Schüler über Nationalsozialismus und Ausgrenzung vorstellen dürfen, erfüllt mich voller Freude, zumal wir innerhalb einer Woche gleich zwei wesentliche Bücher zu dieser Thematik veröffentlichen durften. Vor genau einer Woche feierten wir in Bochum im Beisein von mehr als 100 Gästen mit Heide Rieck und ihrem Roman ‚Aber die Schatten …‘ Premiere. Am Beispiel eines 92 jährigen Wiener Judens, der rechtzeitig vor seiner Deportation nach Palästina fliehen konnte, aber seine Eltern zurücklassen musste, die bald darauf im Vernichtungslager ermordet wurden, verdeutlicht sie, welche Auswirkungen die Shoa bis heute auf Menschen haben kann – ‚Die langen Schatten‘.
Doch gibt es diese langen Schatten tatsächlich, oder sind es nur lange Schatten für die unmittelbar Beteiligten? Dazu einige Feststellungen.
1) Vor einigen Wochen war ich wieder einmal in Berlin, besuchte die ‚Die Topographie des Schreckens‘. Was ich erlebte, war schockierend. Tausende von Besuchern, vor allem auch viele Schulklassen, die den Besuch dieses Museums fast immer als Pflichtprogramm in ihrem Programm haben, zudem unzählige erwachsene Touristen. Von Ergriffenheit wenig zu spüren. Viele Junge und Erwachsene auf der Suche nach dem gruseligsten Motiv, vor dem sie sich mit Kamaras und Handys fotografierten.
2) Eine Gesprächsrunde mit Jugendlichen, bei der ich vorschlug, über die Thematik Nationalsozialismus zu arbeiten. Entsetzte Antworten: Das haben wir doch schon bis zum Erbrechen in Deutsch, Religion und Geschichte gemacht. Alle Themen, nur nicht Nationalsozialismus. Im Laufe des weiteren Gesprächs zeigten sich zwei Sachverhalte: Zum einen beschränkte sich das Wissen über Nationalsozialismus auf wenige Fakten, selbst eine zeitliche Einordnung (eine Gymnasialgruppe 10. Schuljahr) war vielen nur sehr ungenau möglich. Die stärkste Abwehrhaltung kam jedoch aus der Feststellung: Wir wissen, dass da Verbrechen begangen wurden und das moralisch nicht in Ordnung war. Aber da können wir nichts für. Lasst uns endlich in Ruhe mit diesem Thema.
3) Eine Gesprächsrunde mit Lehrern und Didaktikern über die Frage der Arbeit mit Jugendlichen und Erwachsenen zum Thema Nationalsozialismus. Zwei Tage lang diskutiere man darüber, welche Medien am besten geeignet wären, den Menschen das Geschehen von damals zu vermitteln. Es war eine rein technische und finanzielle Diskussion, Inhalte, was man vermitteln wollte, suchte man vergebens. Nationalsozialismus und Ausgrenzung wurden zum didaktischen Umsetzungsprojekt, zu einem Teil des pädagogisch-wissenschaftlichen Wissenschaftsbetrieb, einer unter vielen.
4) In einem langen Gespräch mit zwei Zeitzeugen formulierte einer der beiden Gesprächsteilnehmer seine Bedenken. Die Verbrechen des Nationalsozialismus sind in unzähligen Museen und Gedenkstätten dokumentiert, in Beton und Glas. Uns Zeitzeugen erklärt man häufig genug, unsere Erzählungen seien subjektiv und berücksichtigten nicht die wissenschaftlichen Dimensionen des komplexen Zusammenhangs Nationalsozialismus und Verfolgung. Doch wenn wir mit Jugendlichen reden, sind sie betroffen, verlangen mehr zu wissen. Das Dritte Reich ist in Schutt und Asche untergegangen, doch die Erinnerung wird in Beton und Glas zelebriert, nicht aber in die Herzen der Menschen tramsportiert.
Nur diese vier Erfahrungen allein zeigen bereits die ganze Problematik der Frage, wie gehen wir heute mit der Vermittlung des Geschehens im Nationalsozialismus um. Und auch die Frage des 'Warum' gehen wir weiter mit der Thematik um, muss erneut gestellt werden, denn offensichtlich, zeigt dies unter anderem der Rückgang der Bedeutung der Thematik im unterrichtlichen Geschehen, herrscht darüber kein oder nur noch ein geringer Konsens.
Zu der Frage des Warums der Themenbehandlung möchte ich eigentlich nur noch einmal den vielzitierten Satz des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zitieren. „Es geht nicht darum, Vergangenheit zu bewältigen. Das kann man gar nicht. Sie läßt sich ja nicht nachträglich ändern oder ungeschehen machen. Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.“
Und diese Ansteckungsgefahr lauert vielleicht stärker, als wir glauben, zeigen dies doch die Ereignisse der letzten Wochen und Monate, in denen die Strukturen des Rechtsradikalismus und Neonazismus nur zu deutlich wurden. Und vergessen wir nicht, seit 1990 zählen selbst die Verfassungsschützer über 50 Tote durch rechtsradikale Gewalt, andere Quellen geben sogar bis zu 180 Opfer an. Der Neonazismus und Rechtsradikalismus ist ein nicht zu unterschätzendes gesellschaftliches Problem, der seine Ideologie genau aus den Jahren des Dritten Reichs bezieht. Und die Leugnung des Holocaust zieht, wie wir nur zu gut wissen, mittlerweile sehr weite Kreise, selbst unter Historikern.
Doch wie führen wir junge Menschen und auch Erwachsene an diese Zeit heran?
Die ablehnenden Reaktionen vieler Jugendlicher bei der Behandlung der Thematik zeigen, dass wir Wege suchen müssen, die überzeugender sind, als viele Wege, die wir heute gehen.
Auch dazu einige Anmerkungen. In den Evaluationen der jugendlichen Teilnehmer, die in Auszügen auch in diesem Buchprojekt abgedruckt sind, ist sehr häufig die Rede davon, dass sie bereits wissenschaftlich an diese Thematik mehrfach herangeführt wurden. Wir leben in einem Zeitalter, in dem junge Menschen an alle Bereiche anscheinend wissenschaftlich, zielorientiert und objektiv herangeführt werden. Doch können wir wirklich an alles objektiv – ich will gar nicht die Frage der Objektivität der Wissenschaftlichkeit hier aufreißen – heranführen? Wir wollen, gebietet das unser demokratischer Bildungsauftrag, junge Menschen in ihrer jeweils eigenen Individualität zu einer eigenen Identität führen. Das heißt auch, wir müssen sie selber entscheiden lassen, müssen sie fühlen lassen, müssen ihnen die Chance zum eigenen Erleben, zur eigenen Auseinandersetzung, zum eigenen Erforschen bieten, auch mit allen Irrtümern. Nur die wissenschaftlichen Fakten zu bieten und zu sagen, nimm an oder nicht, führt nicht zur Identität, führt allenfalls zur Herausbildung von Lernmaschinen. Und das gilt nicht nur für das Thema Nationalsozialismus.
Und es gibt weitere verhängnisvolle Fehler in der heutigen Herangehensweise an die Thematik des Nationalsozialismus.
Dies ist vor allem eine moralische Instrumentalisierung des Themas, die vielleicht viele Jahre gar nicht anders möglich war. Zu lange haben wir nur unterschieden in die Täter und die Opfer und die Unbeteiligten. Wir haben als Generation die Älteren gefragt, ob sie Täter waren, haben zu Recht die Täter moralisch und vielleicht zu wenig juristisch verurteilt, haben zugleich das Gedenken an die Opfer stärker geweckt, häufig ohne je das Gespräch mit den Überlebenden und Nachkommen zu führen. Das Schema stand ‚Schwarz und Weiß‘, Grau war unbekannt. Und damit war das Thema moralisch letztendlich abgearbeitet. Wir ergreifen Partei für die Opfer, legitimieren uns so als moralische gute Menschen und verurteilen die Täter, die Funktionäre und Schergen der Nationalsozialisten. Doch haben wir es uns nicht zu leicht gemacht? War diese Herangehensweise glaubwürdig? Was ist mit den angeblich vielen Unbeteiligten, der Grauzone der Menschen, zu der wir doch letztlich alle gehören. Gerade die Untersuchungen zur deutschen Wehrmacht haben in den letzten Jahren deutlich gemacht, dass es kaum Unbeteiligte geben konnte.
Alle Menschen waren in die Systemstrukturen verstrickt, es gab kein Entrinnen. Das machte den Nationalsozialismus erst zur Vernichtungsmechanerie. Was machte die Grauzone unfähig zum Handeln? Unser Handeln, unser Erforschen darf sich nicht erschöpfen in der moralischen Verurteilung, die ohnehin feststeht. Wir müssen herangehen an eine systematische Analyse und Beurteilung, warum die Menschen damals sich nicht gegen die Vernichtung von Millionen von Menschen gewehrt haben.
Aus all diesen Punkten, hier nur verkürzt angerissen, entwickelte sich unser Projekt mit den Jugendlichen. Und es ist überraschend, mit welcher Intensität, noch einmal sei an dieser Stelle auf die Evaluation der Jugendlichen selber verwiesen, sie sich dieser Projektarbeit annahmen, die versuchte, sich der Grauzone des Nationalsozialismus zuzuwenden, die versuchte, sie im Rahmen einer eigenen Identitätsbildung sich mit der Individualität junger Menschen aus den Jahren des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Die Schüler sollten sich im Rahmen vorgegebener familiärer Strukturen jeweils in die Rollen von Jugendlichen in den Jahren des Nationalsozialismus begeben und die Jahre mit wichtigen Entscheidungen durchlaufen. Eigenes Erforschen, sich in die Rollen von Menschen versetzen, Entscheidungen zum Handeln treffen, bewusst machen, dass man sich entscheiden musste.
Nein, keiner von ihnen war moralisch von vornherein verurteilt. Sie alle waren Jugendliche aus diesen Jahren, Jugendliche einer ganz normalen Gymnasialklasse. Doch die Geschehnisse erlaubten ihnen nicht, sich nicht zu entscheiden. Und das war das wesentliche Ergebnis des Projekts. Ob sie wollten oder nicht, sie mussten erkennen, dass sie handeln mussten. Wenn ein Klassenkamerad von der Schule verwiesen wurde, wenn sie auf eine Parkbank trafen, auf der keine Juden sitzen durfte, als ihr erster Klassenkamerad im Krieg starb, als die Mutter eines Klassenkameraden sich umbrachte, da sie gedemütigt wurde, weil sie Zwangsarbeitern etwas zugesteckt hatte. Und sie bemerkten, wenn sie sich nicht entschieden, nur zusahen, hatten sie auch entschieden.
Und sie mussten ihre Entscheidungen in ihren Rollen an der tatsächlichen Historie vergleichen. Sie schrieben Facharbeiten und sprachen mit Zeitzeugen, ahnten, wie diese sich gefüllt haben mussten bei ihren damaligen Entscheidungen.
20 Schülerinnen und Schüler, die niemals vorher geschrieben hatten, schrieben ihre Gedanken und Gefühle auf, setzen sich in unzähligen Gesprächen mit ihrer Persönlichkeit auseinander, diskutierten ihre Entscheidungsfindung auch in der Aktualisierung.
Andere Projektteile begleiteten den Auseinandersetzungsprozess, eine Studienfahrt nach Göttingen, die Kursfahrt nach Berlin, schriftliche Hausarbeiten und die Facharbeiten, bei der Zeitzeugen befragt wurden.
Das Buch dokumentiert das Schreiben der Jugendlichen. Es zeigt die verschiedenen Rollen und ihre Gedanken und Gefühle. Natürlich kann dieses Buch nur Ausschnitte aufzeigen, will auch nicht mehr. Es will, kann und darf auch nicht Unterrichtsvorlage für andere Projekte sein, will nicht mehr als Anregung sein. Die von vielen Verlagen angebotenen fertigen Unterrichtseinheiten für den Unterricht über das Thema wollen wir nicht bieten, denn die Rollenvorgaben eines Projekts müssen jeweils auf die Teilnehmer und die Region, in der das Projekt stattfindet, abgestimmt sein. Das gilt auch für die jeweiligen Schreibanlässe und den weiteren Verlauf des Projekts. Die Entwicklung der Rollen durch die Schreibenden macht jeweils eine situative Neuentscheidung notwendig.
Doch erscheint mir das Dokument gelegentlich spannender denn jeder Roman zu sein.
Lassen Sie mich abschließend aus der Evaluation von Nina Dierks zitieren, in der viele der nun gesagten Momente noch einmal zusammengefasst werden:
„Als ich in der ersten Stunde hörte, dass das Thema Nationalsozialismus sein würde, war ich zunächst nicht sehr begeistert, da wir im Geschichtsunterricht schon lange und ausführlich darüber geredet hatten. Doch schon in den ersten Stunden und vor allem nach der Göttingen-Fahrt wurde mir bewusst, dass hier eine ganz andere Seite beleuchtet wurde. Nicht zuletzt dadurch, dass das Ganze ortsbezogen war. Ich hatte vorher nichts darüber gewusst, was genau damals hier im Ammerland passiert war. Wir hatten immer nur über die Geschehnisse im gesamten Deutschland gesprochen. Das Buchprojekt fand ich von Anfang an faszinierend. Wann bekommt man schon einmal die Gelegenheit, ein Buch zu schreiben? Und auch die Idee, jedem eine Figur zuzuweisen, die er sozusagen ‚durch die Geschichte lenken’ muss, hat mich begeistert. Zu dem Zeitpunkt war mir noch nicht klar, wie schwierig es sein würde, sich die Situationen so auszumalen, dass man alle Emotionen realistisch darstellen kann und dabei noch sinnvolle Zusammenhänge schaffen. Es war etwas vollkommen anderes als die Interpretationen, Analysen, Erörterungen und Beschreibungen, die man in anderen Fächern schreibt. Es war eine Herausforderung …“
Lassen Sie uns an dieser Stelle mit den Texten der Schüler beginnen.