Gießener Zeitung berichtet über Anja Gumprechts 'Die Heinzun im Hühnerstall'
Kleines Buch mit großer Wirkung
KRIEGSGESCHICHTEN Christa Becker und Anja Gumprecht stellen am 17. November „Die Heizung im Hühnerstall“ vor
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GIESSEN - (ab). Christa Becker liebt Geschichten und erzählt für ihr Leben gern. Das hat sie von ihrer Großmutter. Die hatte viel Zeit, als Christa Becker Mitte der 40er Jahre ein kleines Mädchen war. Das Wohnzimmer der Großmutter war gleichzeitig das Wartezimmer für die Patienten von Beckers Vater. In dem Wohnwartezimmer hat die Oma Socken gestopft und der neben ihr spielenden Christa leise ihre Geschichten erzählt, während fremde Menschen darauf gewartet haben, dass der Doktor Zeit für sie hat.
Von der Oma im Wartezimmer hat Becker später ihrer Tochter erzählt. Und davon, wie Badewanne und Heizöfen aus dem Haus getragen und im Hühnerstall versteckt wurden, damit die Soldaten der Siegermächte es nicht allzu behaglich hatten im Hause Becker.
Christa Beckers Tochter, Anja Gumprecht, hat die Geschichten ihrer Mutter nun aufgeschrieben. In „Heizung im Hühnerstall“ lässt sie Oma Christa Enkelin Lina ihre Erinnerungen an die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs erzählen. Wer Auszüge hören will, darf sich auf eine Lesung der beiden Frauen am 17. November um 19.30 Uhr im Schuhhaus Darré im Seltersweg freuen (Anmeldung erbeten unter info@darre.de). Die Idee zum Buch kam Anja Gumprecht, als ihre eigenen Töchter ins Vorlesealter kamen. „Es gibt unzählige Geschichten für Kinder von Feen, Zauberern und Tieren. Aber wo gibt es eigentlich Geschichte für Kinder?“ Anja Gumprecht ist Kulturwissenschaftlerin und Heilpädagogin, da liegt es nahe, dass sie sich solche Gedanken macht. „Erzählkultur“, sagt sie, „ist was Wichtiges und Geschichten sind Erzählkultur“.
Ihr Buch soll Kinder anregen, Eltern und Großeltern zu fragen, wie es war, als sie klein waren. „So was fragen Kinder aber nicht von sich aus, sie wissen ja nicht, dass alles einmal anders war.“ Deshalb ist es auch eine Aufforderung an Großeltern, Kindern und Kindeskindern ihre Erinnerungen zu erzählen. „Sonst verschwindet diese Kultur irgendwann“, wo es doch schon längst nicht mehr gang und gäbe ist, dass mehr als zwei Generationen unter einem Dach leben. Ein kleines Buch mit großer Wirkung also: „‚Die Heizung im Hühnerstall’ ist ein Kinderbuch, das in jede Familie gehört. Es bietet den idealen Anlass zum Erzählen und Reden. Vielleicht trägt es damit auch ein Stück weit dazu bei, ein neues Verhältnis zwischen den Generationen herzustellen“, schreibt der Geest-Verlag, bei dem das Buch erschienen ist. Es hat sich nicht von gestern auf heute geschrieben. Zum einen, weil es zwischen Anja Gumprecht und Christa Becker, die die Geschichten natürlich als Erste gegengelesen hat, so viel zu besprechen gab. „Irgendwie hat das auch unser Verhältnis zueinander noch mal aufgerüttelt“, freut sich die Tochter. Diskutiert wurde, wenn die Jüngere geglaubt hat, Kartoffelschütte sei schon das alte Wort und sich von der Älteren sagen lassen musste, dass es damals Kartoffelbett hieß. Oder, wenn es darum ging, wie man am besten beschreibt, dass Krieg, Armut und Not natürlich schrecklich waren, die Kinder, weil sie es nicht anders kannten, aber trotzdem Spaß hatten. Damals eben, wenn sie das erste Mal eine Apfelsine zu Gesicht bekamen und sie nicht essen, sondern den kleinen gelben Ball unbedingt behalten wollten.
Vor allem aber hat es gedauert, bis die zehn Geschichten von früher fertig erzählt und aufgeschrieben waren, weil in Gumprechts Familie ganz plötzlich nur noch das Hier und Heute gezählt hat, als ihre Tochter Lina an Krebs erkrankt ist. „Von einem auf den anderen Tag richtet man sich in einem neuen Alltag ein, es muss ja so sein“, erinnert sich Anja Gumprecht. Geschrieben hat sie in dieser Zeit nichts, gesprochen umso mehr – auf den langen Autofahrten ins Krankenhaus, in den langen Wochen im Krankenhaus mit ihrer kleinen klugen Tochter. Und Lina mit ihr. Lina, die mit vier Jahren natürlich genau wissen wollte, was Leukozyten sind. Die es dumm fand, als eine andere Mutter ihrer kranken Tochter erzählte, sie habe eine Kirsche im Kopf, anstatt den Tumor beim Namen zu nennen.
„Für diese Kinder wird das Wort Tumor dann normal, vielleicht wie Krieg damals normal war“, sagt Anja Gumprecht. Das hat sie, jetzt, wo es Lina besser geht, auf die Idee zu einem neuen Kinderbuch gebracht. Vielleicht lässt Gumprecht in diesem Buch dann Oma Christa fragen. Und Lina erzählen – die Geschichten so mag und das Leben so liebt.