Hans-Hermann Mahnken, Bremen - Ein anderes Leben

Hans-Hermann Mahnken, Bremen
Ein anderes Leben


Einige Jahre wohnten wir in einer hellen Wohnung mit großer Terrasse, drüben im Philosophenviertel. Vor ungefähr fünf Jahren bin ich dann allein in diese Zweizimmerwohnung gezogen, direkt unters Dach, im Sommer ist es hier brütend heiß, im Winter eis-kalt.
Da hat er schon im Souterrain gewohnt, in diesem Wohnklo mit Kochnische. Ein einziges Mal habe ich ihn dort unten besucht, direkt nach meinem Einzug. Damals habe ich mich bei allen im Haus persönlich vorgestellt, überall geklingelt, aber die meisten hat es überhaupt nicht interessiert, wer da oben unter dem Dach einzieht. Allein Walter hat mich wortlos hineingebeten, auf die einzige Sitzgelegenheit, einen speckigen, durchgesessenen Sessel, gedeutet und sich mir gegenüber aufs Bett gesetzt.
Ich weiß nicht … ich habe ihm dann wohl alles Mög-liche erzählt, dass unsere Tochter überfahren worden ist, ich danach gesoffen und meine Arbeit verloren habe, meine Frau mich verlassen hat – und Walter hat mich mit seinen freundlichen Augen aufmerksam angesehen und ab und zu genickt. Damals ist es mir nicht so gut gegangen. Beim Hinausgehen hat er mir die Hand gegeben und gelächelt.
Später haben mir Nachbarn erzählt, dass er nicht ganz richtig im Kopf sei und niemanden in seine Wohnung lasse.
Ich habe dann ziemlich schnell wieder Arbeit gefunden, bei einer Firma, die Schulen, Büros und Lager-hallen putzt. Eine gute Arbeit. Inzwischen bin ich Vorarbeiter und häufig mit dem Dienstwagen unter-wegs, auch privat. Die Früh- und Spätschichten ma-chen mir nichts aus, ich lebe schließlich allein.

Walter habe ich fast täglich getroffen, wenn er den Innenhof, die Toreinfahrt oder den Bürgersteig vor Nonnenbergs Bäckerei gefegt hat. Im Winter hat er Schnee geschippt oder Salz gestreut, wofür die alte Nonnenberg ihm öfter einen heißen Kaffee und übrig gebliebenes Gebäck auf den Verteilerkasten rausge-stellt hat.
Bevor sie mich zum Vorarbeiter gemacht haben, bin ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit ge-fahren. Walter hat oft an der Haltestelle auf der Bank gesessen und mir freundlich zugenickt, wenn ich aus dem Bus gestiegen bin. Ich selbst habe mit dem Sau-fen zugleich das Rauchen aufgegeben, aber für Wal-ter immer ein paar Zigaretten in der Tasche gehabt. Wir haben dann schweigend nebeneinandergeses-sen, in den Himmel geguckt oder den Verkehr und die Leute beobachtet.

Auf dieser Bank haben sie ihn gefunden, stundenlang soll er mit offenen Augen dagesessen haben.
Immer wieder steigt das Bild vor mir auf, ich werde es nicht los: Walter allein an der Bushaltestelle, im Niemandslicht eines Winternachmittags, der Verkehr rauscht vorbei, Leute steigen aus dem Bus.

 

Hans-Hermann Mahnken, *1955, Bremen, Dipl.-Pflegewirt, bearbeitet in Lyrik