Hoffnungstexte: Ida Borgwardt - Ich werde fliegen

Ich werde fliegen

Er ist so leise, so kurz, doch ich spüre ihn in mei-nem ganzen Körper. Der Aufprall des Ballons, den mein Kleiner gerade von seinem Hochbett geworfen hat.
Gänsehaut überkommt mich, und ich spüre den dicken Kloß in meinem Hals.
Tapp, tapp, tapp, tapp. Kälte durchschüttelt mich, als ich den hellblauen, mit Luft gefüllten Ball dort unten auf dem Boden liegen sehe. Er bewegt sich nur noch leicht. Es scheint, als wäre er ein Mensch, der erschöpft ist von dem Versuch, zurück nach oben zu gelangen.
Ein Mensch wie ich.
Mein Leben ist nie perfekt gewesen, doch das machte mir nicht zu schaffen. Ich war glücklich, wurde jeden Tag glücklicher. Schließlich hatte ich ihn an meiner Seite gehabt, ihn, in dessen Gegen-wart ich mich unglaublich leicht und schwerelos fühlte.
Ihn, der immer zu mir stand und alles dafür gab, mich zum Lächeln zu bringen.
Ja ihn, der mir das wundervollste Geschenk der Welt gemacht hatte. Doch jetzt war er weg. Weg. Für immer.
Diese beiden Worte verfolgen mich Tag und Nacht. Immer weiter. Ich kann ihnen nicht ent-kommen. Sie besetzen mich, sie zerfressen mich, sie – sie rauben mir den letzten Funken Hoffnung.
Verschwommen nehme ich wahr, wie zwei kleine Hände nach dem Menschen dort am Boden tasten. Mein kleines Geschenk greift vorsichtig nach ihm, um ihn anschließend hoch in die Luft zu werfen. Er fliegt und fliegt und jedes Mal, wenn er droht, auf den Boden zu fallen, wird er noch höher geworfen.
Und ich verstehe es.
Dauernd gibt es Rückschläge, die einen tief fallen lassen. Doch nur ein kleiner Stupser reicht, und schon geht es wieder bergauf. Immer weiter, im-mer schneller. Und es hört nie auf. Ich werde flie-gen, fliegen, hoch hinaus, weit in die Ferne, bis in die Freiheit. Niemand wird mir jemals diese Freude nehmen, wenn ich dort oben stehe und mich mit einem letzten Lächeln von dieser Zeit verabschiede.

Ida Borgwardt (16 Jahre)