Ich bin mir selber fremd geworden: Eindrücke und Gedanken von einer ungewöhnlichen Begegnung mit Zeitzeuginnen und jungen Künstler*innen am 16. November 2024 in Leipzig -

Ich bin mir selber fremd geworden: Eindrücke und Gedanken von einer ungewöhnlichen Begegnung mit Zeitzeuginnen und jungen Künstler*innen am 16. November 2024 in Leipzig


Am Tag zuvor trafen wir uns zum Frühstück in einem Leipziger Hotel. Marie-Luise Knopp hatte zu DDR-Zeiten hier in Leipzig über zehn Jahre erfolgreich als Lehrerin gearbeitet und an der Uni mitgeforscht, wie die Kinder besser Rechtschreibung lernen könnten. Sie hat selbst ein Kind bekommen und gern in Leipzig gelebt. Sie kam vom Dorf und wollte unbedingt in Berlin leben, doch es wurde Leipzig. Und hier wendete sich auch ihr Schicksal: Hier begehrte sie auf, stellte einen Ausreiseantrag und wurde verhaftet und verurteilt wegen versuchter Republikflucht.  
Nach der Wende war Marie-Luise Knopp einige Male in Leipzig auf der Buchmesse – jedoch in anderer Mission als jetzt. Jetzt sollte sie als Zeitzeugin, als politische Gefangene im DDR-Frauengefängnis Burg Hoheneck sprechen. Das war für sie eine völlig andere Situation als an emotional „neutralen“ Orten zu sprechen und aus ihren Büchern zu lesen. Außerdem war vor ihrem Auftritt an dem Leipziger Abend beim Zimmt e.V. ein “performatives Konzert und Gedenken“ angekündigt an einem Veranstaltungsort, den auch ich als Leipzigerin noch nicht kannte.  Was wird das bloß werden? So ihre Sorge. Es ist ja emotional schon schwer genug sich immer wieder den Erinnerungen in der Öffentlichkeit zu stellen – samt den vielen Fragen, die dann vom Publikum kommen.


Samstagabend, 20 Uhr: Eine ehemalige Werkhalle im Leipziger Osten voller junger Menschen. In dem kargen Raum mit kaltem Licht und Steinboden stehen zwei Etagenbetten (später erfahren wir von einer anderen anwesenden Zeitzeugin, dass in Hoheneck drei Betten übereinanderstanden), dazu drei Arbeitsbänke mit alten Nähmaschinen, auf denen von den Inhaftierten Bettlaken genäht wurden für den Westen – wie in Hoheneck damals. Die Pole des Gefängnislebens: zwischen Arbeit und Schlaf. Junge Künstler*innen von „Schatz& Schande“ und „Neue Kammer“ setzten sich mit den Gedichten auseinander, die die Frauen während ihrer Haft in Hoheneck geschrieben haben: Gedichte voller Schmerz und Sehnsucht nach ihren Kindern, nach Leben, nach Gerechtigkeit. Gedichte voller Trauer, Angst, Verzweiflung. Jetzt vertont, gesprochen, gesungen und szenisch dargestellt von den beiden Künstlerkollektiven. Eine eindrucksvolle, berührende Annäherung an das Leben der politischen Gefangenen in Hoheneck.

Marie-Luise Knopp ist so berührt, dass sie die Künstler*innen spontan bittet, mit dieser Performance auch nach Düsseldorf zu kommen, in die Stadt in der sie nach ihrer Abschiebung aus der DDR lebt. Danach ist sie dran – die Zeitzeugin Marie-Luise Knopp. Ganz im hier und jetzt. Keine Anklagen, sondern Klarheit. Sich dem Erlebten stellen. Schicht für Schicht. Und jetzt hier in Leipzig, wo alles begann - vor den vielen jungen Menschen im Publikum. Vielleicht bekommen sie eine Ahnung, wie schnell (junge) Menschen in einer Diktatur unter die Räder kommen können, wie (über)lebenswichtig es ist, jeden Tag gemeinsam um Demokratie zu ringen. Die Stimmen der Frauen, ihre Sehnsucht nach Frühling, nach einem einfachen guten Leben, die bleiben und hallen nach in dieser grauen Novembernacht in Leipzig.

Manuela Richter-Werling