Jochen Keth - Wir lebten in tollen Zeiten - ein vorgezogener Nachruf
Jochen Keth - inspiriert durch Bertolt Brecht „An die Nachgeborenen“
Wir lebten in tollen Zeiten – ein vorgezogener Nachruf
Wahrlich, wir lebten in tollen Zeiten, mahnende Worte klangen in unseren
Ohren töricht, eine nachdenkliche Stirn störte nur das Recht auf freies
Leben, sorglos Lachende wollten keine furchtbaren Nachrichten empfangen.
Gespräche über sterbende Arten, zerstörte Lebensräume, wuchernde
Müllberge, ganz hinunter zu den tiefsten Tiefen der Ozeane langweilten
die Massen, selbst Temperaturrekorde, steigende Meeresspiegel, überhitzte
Eiskappen konnten menschliches Gebaren kaum beeinflussen, nichts durfte
die Lust auf Bequemlichkeit und Überfluss brechen. Nachhaltigkeit wurde
gepredigt, aber nicht verstanden. Kriege gegen Mensch und Natur waren
wichtiger, als deren Bewahrung, derweil ging Mutter Erde geprügelt am Stock.
– „lieber mal warten, was die anderen so machen.“
Wir zerlegten die Zukunft, vererbten unser verlebtes Leben an unsere Kinder,
glaubten unbeirrt, bestens bestellte Felder zu übergeben, doch einst grüne
Oasen begannen auszutrocknen, es verschwanden Wälder, Bäche, Flüsse;
Brunnen und Seen versiegten; Gletscher schmolzen wie Butter; Berge kamen
ins Rutschen; Wüsten machten sich breit, an Land traten salzige Fluten,
verschluckten Dörfer und Städte, zwangen Menschen zur Flucht.
Ja, wir stutzten durchaus - ein wenig, bisweilen mehr, dennoch blieben wir
in uns gefangen, erlagen mit Vorliebe neuen Genüssen, Verzicht schadete
nur unserem Selbstverständnis zu herrschen - „lieber mal warten, was
andere so machen.“
Wir verloren den Anschluss, taumelten schlafwandlerisch im kollektiven Versagen, fraßen brutal gierig, gnadenlos egoistisch, waren weltmeisterlich im Aussitzen, Trippelschrittchen erwuchsen zu bittersüßen Freuden, Applaus war euphemistischer Untätigkeit gewiss, vergebliches Streben all jener, die weltweit um einen Wandel kämpften, sie wollten nicht warten, bis andere was machten.
Zuerst traf es die Armen und Schwachen. Zufluchtsorte verschlossen ihre goldenen Tore, unüberwindlich und nach allen Seiten ausgebaut, wurden Mauern zu Festungen, Stacheldraht schärfer, vermeintliche Gewinner wussten schon immer,
schuldig waren stets nur die anderen: „this land is our land, shut up and fuck off
foreign peoples – good luck.“ So hing die Menschlichkeit verfault am Strick.
Doch längst hatte der Wind sich gedreht, wehte Unheil in jedwede Richtung
Stand noch irgendwo geschrieben: „Der Mensch am Menschen gescheitert!“
Wir lebten wahrlich bis zum Ende in tollen Zeiten.
Weniger als wir wollten – viel mehr als wir sollten.
Gedenkt unserer mit Nachsicht?
Es bleibt die Hoffnung im Zweifel.